Cannstatter Stolperstein-Initiative

Emilie und Julie Levi: Aus städtischen Diensten entlassen

Emilie Levi (undatiert)Emilie und Julie Levi waren mit ihren Eltern nach dem Ersten Weltkrieg von der Wilhelmstraße in die Liebenzeller Straße 8 gezogen. Ihr älterer Bruder, als Leutnant der Landwehr im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse ausgezeichnet, war am 2. April 1916 bei den heftigen Kämpfen um Fort Douaumont gefallen. Der Vater, Teilhaber eines Zigarrengeschäfts in der Oberen Karlstraße, starb 73-jährig 1924. Die Mutter lebte noch, als der erste Schicksalsschlag ihre Töchter heimsuchte.

Am 16. März 1933 hat Karl Strölin1, zunächst als Staatskommissar die Verwaltung der Landeshauptstadt Stuttgart übernommen . Der spätere Oberbürgermeister drängte alsbald auf Erfüllung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums (BBG), das in Paragraph 3(1) unmissverständlich erklärt: „Beamte, die nicht arischer Abstammung sind, sind in den Ruhestand zu versetzen.“ Wer weiß, ob Emilie und Julie Levi zu diesem Zeitpunkt schon wussten, dass ihr Arbeitsplatz bedroht war, und wenn ja, ob sie sich vorstellen konnten, entlassen zu werden? Immerhin standen sie seit langem in Diensten der Stadt. Emilie, bei der Stadtarztstelle, dem späteren Gesundheitsamt tätig, war im Juli 1921 zur Fürsorgerin in Gehaltgruppe V befördert worden. Julie, seit 29. April 1926 in städtischen Diensten, war als Beamtenanwärterin beim Wasserwerk mit Wirkung vom 1. April 1928 zur Kanzleigehilfin in Besoldungsgruppe 15 aufgestiegen.Für den „alten Kämpfer“ Strölin war langjährige Mitarbeit kein Kriterium, vielmehr war er bestrebt, ganz der nationalsozialistischen Doktrin verpflichtet, jüdische Mitarbeiter schnellstmöglich aus dem „Personalkörper“ zu entfernen. Eine mit dieser Zielsetzung von ihm eingesetzte Kommission schlug denn auch die Entlassung von Julie Levi vor. Die Prüfstelle beim Staatsministerium widersprach diesem Votum jedoch und ordnete am 20. November 1933 ihre Versetzung in den Ruhestand an. In welcher Form und wann genau ihr dies eröffnet wurde, ist nicht mehr nachvollziehbar, den internen „Mitteilungen des Bürgermeisteramts Stuttgart“ vom 2. Februar 1934 ist jedoch zu entnehmen, dass Reichsstatthalter Strölin 24 jüdische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entlassen hat, darunter Julie und Emilie Levi. Die Jüngere der beiden war zu diesem Zeitpunkt erst 41 Jahre alt, sie hatte eigentlich noch ein halbes Berufsleben vor sich.

Die Aussichten, anderweitig Arbeit zu finden, waren zu diesem Zeitpunkt für eine Jüdin schon sehr gering. Julie berief sich deshalb auf § 16 des Gesetzes, das ihr zum Verhängnis geworden war. Dort waren für den Fall unbilliger, aus der Durchführung des Gesetzes resultierender Härten immerhin Übergangsgelder vorgesehen. Im März 1934 hat Karl Strölin, mittlerweile selbsternannter Oberbürgermeister, Julie Levis Antrag gegenüber dem Innenministerium faktenreich und erstaunlich wohlwollend befürwortet: Sie begründe, schreibt Strölin, „ihr Gesuch insbesondere damit, dass auch ihre einzige Schwester auf Grund des BBG in den Ruhestand versetzt werden musste. Das dieser zustehende Ruhegeld von monatlich (brutto) 135,74 RM reiche nicht aus, um auch ihre 71 Jahre alte leidende Mutter, die Witwe ist, mit zu unterhalten. Ihr früher ansehnliches Vermögen sei durch die Geldentwertung auf den geringen Rest von 18 000 RM zusammengeschmolzen. Als besonders schwerwiegenden Grund für ihr Unterstützungsgesuch führt die Beamtin an, dass ihr einziger Bruder, der Diplomingenieur war und die Familie hätte ernähren können, am 2. April als Leutnant der Reserve gefallen ist. […] Die Prüfung des Gesuchs hat ergeben, dass die vorstehenden Angaben zutreffen. Die Technischen Werke bezeugen der Beamtin, dass ihre Führung stets tadelfrei und gut war und ihre Leistungen, abgesehen von der mangelnden Fertigkeit in Kurzschrift und Maschinenschreiben, durchaus befriedigten.
Nach den allgemeinen Richtlinien der Stadtgemeinde hätte die Beamtin, wenn sie wegen Dienstunfähigkeit oder Alters ohne Ruhegeldanspruch ausgeschieden wäre, einen Gnadensold von jährlich 367,85 RM, monatlich 30,66 RM, gekürzt nach den Notverordnungen auf monatlich 26,68 RM erhalten.
[…] Es wird der Gesuchstellerin bei ihrem Alter, ihrer Rassezugehörigkeit und insbesondere ohne Fertigkeit in Kurzschrift und Maschinenschreiben tatsächlich schwer fallen, wieder einen geeigneten Arbeitsplatz zu finden. Besondere Berücksichtigung verdient aber wohl die Tatsache, dass der Bruder und Ernährer der Familie im Kampfe für Deutschland gefallen ist. Aus diesen Gründen möchten wir empfehlen, dem Württ. Staatsministerium die Bewilligung des üblichen stets widerruflichen Gnadensolds im Wege des Härteausgleichs vorzuschlagen.“

Zur Prüfung aufgefordert, „ob sich in den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen der Gesuchstellerin und ihrer Angehörigen in der Zwischenzeit nichts geändert hat“ , beschied das Bürgermeisteramt dem Innenministerium im September 1934: Julie Levi habe ergänzend mitgeteilt, dass sie über 15 000 RM Ersparnisse verfüge, ansonsten habe sich nichts geändert; sie erhalte ihr Gesuch um einen Gnadensold aufrecht.

Der zuständige Sachbearbeiter des Innenministeriums machte sich Darstellung und Argumentation Strölins zu eigen und beugt selbst der Zumutung vor, Julie Levi solle ihr Vermögen angreifen; denn dies hätte „zur Folge, dass sie eines Tages vor dem Nichts stehen würde und auf die öffentliche Fürsorge angewiesen wäre. Es so weit kommen zu lassen, erscheint nicht ganz gerechtfertigt, zumal da es den Anschein hat, als ob es sich bei der Familie Levi um anständige Juden handle. Die Zeichnung der Kriegsanleihe von 45 000 RM spricht hierfür. Besondere Berücksichtigung verdient aber die Tatsache, dass der Bruder der Gesuchstellerin, der nach ihrem glaubwürdigen Vorbringen der Ernährer der Familie geworden wäre, im Weltkrieg für Deutschland gefallen ist. Wenn er der Vater oder der Sohn des Gesuchstellerin wäre, hätte nach § 3 Abs, 2 BBG die Versetzung der Gesuchstellerin in den Ruhestand nicht vorgenommen werden können. Verglichen mit solchen Fällen und bei Berücksichtigung aller übrigen Umstände dürfte die Zurruhesetzung der beiden Schwestern zweifellos eine Härte bedeuten.“ Der Beamte beantragt in Übereinstimmung mit der Stadtverwaltung, beim Württembergischen Staatsministerium, Julie Levi den beantragten Gnadensold zu gewähren. Das war offensichtlich ernst gemeint, verrät aber mit der Formulierung „anständige Juden“ auch die antisemitische Überzeugung, dass die Mehrheit der anderen eben nicht anständig war.

Ministerpräsident Mergenthaler zeigte sich von den vorgetragenen Argumenten unbeeindruckt und hielt die „Gewährung einer laufenden Unterstützung nach § 16 BBG, jedenfalls zur Zeit, nicht für begründet, zumal die Gesuchstellerin auch nur 7 Jahre in städtischen Diensten stand“.

Anfang 1935 muss Julie Levi erfahren haben, dass ihr Antrag abgelehnt worden war, bald darauf, am 5. Juli starb ihre Mutter und fand im Familiengrab auf dem Steigfriedhof ihre letzte Ruhestätte. Zur finanziellen Not kam für die beiden Schwestern die immer strenger angezogene Schraube nazistischer Drohungen und Schikanen. Man kann nur ahnen, welche Alltagssorgen und Überlebensängste sie gequält haben. Die nächste verlässliche Nachricht über Julie Levi stammt vom 1. Dezember 1941, dem Tag, an dem sie vom Killesberg aus nach Riga deportiert wurde und ihre Spuren sich im Grauen des Massenmordes verlieren.

Zu diesem Zeitpunkt hatte man die Schwestern aus ihrer Wohnung im zweiten Stock des schönen Hauses Liebenzeller Straße 8 längst hinausgedrängt . Nachdem der Mieterschutz für Juden am 30. April 1939 aufgehoben worden war, hatte die Stadt Stuttgart verlangt, bis 1. Dezember hätten sich alle Juden bei jüdischen Hausbesitzern einzumieten, denn in Stuttgart herrschte große Wohnungsnot. Julie fand im überfüllten Haus Daimlerstraße 56 einen Unterschlupf, Emilie kam im längst überbelegten jüdischen Altersheim Wagenburgstraße 28 unter. Von dort wurde sie, am 22. Dezember 1941 nach Eschenau „evakuiert“, drei Wochen, nachdem ihre Schwester mit unbekanntem Ziel nach Osten abtransportiert worden war.

Mit der „Evakuierung“ betagter Juden verfolgte die Stadt Stuttgart ein doppeltes Ziel. Einerseits trachtete man sich die Gebäude der jüdischen Altersheime unter den Nagel zu reißen, andererseits war man aus ideologischen Gründen auf „reinliche Scheidung zwischen Ariern und Juden“ bedacht. Beidem diente die Zwangsverschleppung in ländliche Altersheime, die diesen Namen keineswegs verdienten. So hat der Besitzer von Schloss Eschenau nach dem Krieg berichtet, „Er habe bei einem Lokaltermin darauf hingewiesen, dass das Anwesen viel zu klein sei, jedoch nur zynische Bemerkungen geerntet. Die Stadt gewährte dem Besitzer einen einmaligen Zuschuss von 5000 RM für Instandsetzungsarbeiten, und auch die Gemeinde Eschenau profitierte von dem Geschäft. Während sie an Bernus monatlich 500 RM zu entrichten hatte, bezahlte die jüdische Kultusvereinigung als Untermieter das Doppelte. Es gehörte zur Methode der Täter, die Opfer zur Kasse zu bitten und an der eigenen Vernichtung institutionell zu beteiligen.“

Am 22. Dezember 1941 hat die Sicherheitspolizei die Stuttgarter jüdischen Altersheime geräumt und die Betagten nach Eschenau abgeschoben. Dies war für die meisten von ihnen eine Zwischenstation auf dem Weg nach Theresienstadt. Dieses Schicksal hat der Tod Emilie Levi erspart. Sie hat den Umzug nur einen Monat überlebt und starb am 26. Januar 1942. Auch dann wurde noch versucht ihre Menschenwürde in den Schmutz zu ziehen, denn selbst die Beerdigung der in Schloss Eschenau Verstorbenen auf dem jüdischen Friedhof Affaltrach “war noch mit Schikanen verbunden, bis sich ein Eschenauer Junggeselle (Christian Braun) bereiterklärte, den Transport der Toten mit seinem Einspännerpferd zu übernehmen.“ Diese Transporte erfolgten zum Teil bei Nacht.

Emilie Levis Grab auf dem Affaltracher jüdischen Friedhof hat die Nummer 125. Um ihre Hinterlassenschaft hat sich ein Nachlasspfleger gekümmert. Im Zuge seiner Bemühungen dürfte eine Liste ihrer Bücher entstanden sein, die verdeutlicht, wie belesen und wie „deutsch“ Emilie Levi war. Zu den 28 Büchern, teilweise Reclambändchen, die sie nach Eschenau mitgenommen hatte, zählen „Hermann und Dorothea“, „Wilhelm Meister“ und der „Urfaust“ ebenso wie Gottfried Kellers „Sieben Legenden“, Schnitzlers „Griechische Tänzerin“ und der „Cherubinische Wandersmann“ von Angelus Silesius.

Akribisch wurden auch die beweglichen Sachen – Wäsche, Schuhe, Koffer usw. – verzeichnet, mit insgesamt 589,- Reichsmark bewertet und vom Nachlasspfleger dem Eschenauer Bürgermeister zur Versteigerung übergeben. Nach einigen Verzögerungen fand diese Versteigerung tatsächlich statt und erbrachte nach Abzug aller Kosten 1430,- RM, die dem Nachlasspfleger überwiesen wurden. Er hatte wiederholt darauf gedrängt, den Erlös auf einem Sparkonto für Emilie Levis Erben verzinslich anzulegen. Es muss offen bleiben, ob das geschehen ist, doch darf als sicher unterstellt werden, dass Gestapo oder Oberfinanzdirektion sich auch in diesem Falle des Geldes zu bemächtigen wussten.

Dr. Emil Loewe, der im selben Haus wie die beiden Schwestern Levi lebte, könnte ein Onkel der beiden Schwestern (ein Bruder ihrer Mutter) gewesen sein. Er ist vermutlich nach dem Ersten Weltkrieg als Flüchtling aus dem Elsass nach Cannstatt gekommen und lebte seit 1920 bei den Levis. Anfragen bei französischen Archiven sind gestellt, wurden aber leider nicht beantwortet..

Liebenzeller Straße 8, Stolpersteine verlegt am 24. September 2007.
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: Staatsarchiv Ludwigsburg, Anke Redies

  • 1. Stuttgarts NS-Oberbürgermeister von 1933 bis 1945
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