Cannstatter Stolperstein-Initiative

Familie Guggenheim: In den Tod mit einem acht Monate alten Kind

Die dürftigen Quellen, die über Familie Guggenheim Auskunft geben, sind amtliche Adressbücher, die von der Stadt Stuttgart „für den Dienstgebrauch“ seit Januar 1939 geführten Judenlisten und die nach dem Zweiten Weltkrieg von der Israelitischen Kultusvereinigung erstellte Deportiertenliste. Über diese nüchternen Daten hinaus kann man sich wenigstens ausmalen, welche Nachrichten sie bedrückt haben, welche Schikanen sie eingeschränkt, welche Drohungen sie geängstigt haben, wenn man sich einige Wegmarken der nationalsozialistischen Judenpolitik vergegenwärtigt. Dabei wird man auch gewahr, was es mit dem Vornamen des bei seiner Deportation acht Monate alten Söhnchens Ury auf sich hat.

1933
30. Januar - Der erklärte Antisemit Hitler wird Reichskanzler.
März - Gewalt gegen Juden in Berlin, Breslau, Gleiwitz und Görlitz. Erste Konzentrationslager in Dachau und Oranienburg.
April - Reichsweiter Boykott jüdischer Geschäfte. Gesetz über die Wiederherstellung des Berufsbeamtentums: Nicht „arische“ Beamte werden in den Ruhestand versetzt.
September - Juden dürfen sich künstlerisch nur noch im Rahmen des Kulturbundes der deutschen Juden betätigen.
1934
Mai - Jüdische Ärzte und Ärzte mit jüdischen Ehepartnern verlieren die Kassenzulassung.
Dezember - Verbot der Aufnahme jüdischer Anwälte in die Anwaltschaft. Juden dürfen sich nicht mehr Rechtsanwalt nennen.
1935
Februar - Nichtarier dürfen den Beruf des Zahnarztes und Dentisten nicht mehr ausüben.
September - Nürnberger Gesetze: Reichsbürger ist nur der Staatsangehörige deutschen oder artverwandten Blutes. Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes sind verboten.
1936
August - Olympische Spiele in Berlin. Schon im Vorfeld dieser für Propaganda missbrauchten Olympiade wird öffentlicher Antisemitismus mit Rücksicht auf das Ausland und ausländische Besucher vermieden.
Dezember - Verbot jüdischer Versammlungen und Veranstaltungen.
1938
Juli - Jüdische Ärzte müssen sich „Krankenbehandler“ nennen und dürfen keine „Arier“ mehr behandeln.
Oktober - Juden polnischer Nationalität werden gewaltsam abgeschoben.
November - Reichspogromnacht. In Deutschland brennen die Synagogen, jüdische Häuser werden geplündert, Juden ermordet und zu zehntausenden in Konzentrationslager gesperrt. Die Juden müssen für die Schäden selbst aufkommen, es wird ihnen eine „Sühne“ von 25 % ihres Vermögens auferlegt. „Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Wirtschaftsleben“: Jüdische Unternehmen und Geschäfte müssen geschlossen werden. Juden dürfen keine Theater, Kinos, Konzerte, Ausstellungen usw. mehr besuchen. Juden dürfen keine Kraftfahrzeuge mehr halten.
1939
Januar - Juden müssen die zusätzlichen Vornamen Sara oder Israel annehmen. Für Kinder männlichen Geschlechts kommen Namen wie die folgenden in Frage: Abel, Akiba, Boas, Chaggai, Efim, Eisig, Feiwel, Feleg, Gdaleo, Herodes, Isboseth, Itzig, Kaiphas, Lupu, Machol, Naftali, Obadja, Peisach, Rachmiel, Sabbatai, Schneur, Tewele, Uri oder Zedekia. Zulassungen jüdischer Zahnärzte, Apotheker und Tierärzte werden widerrufen.
Februar - Juden müssen ihren Besitz an Edelmetallen gegen Erstattung des „Metallwertes“ abliefern.
April - Juden wird der gesetzliche Mieterschutz entzogen. Jüdische Hausbesitzer müssen andere Juden als Mieter oder Untermieter aufnehmen.
Mai - Ritualmord-Sondernummer des „Stürmer“.
Juni - Stuttgarter Juden und Wohnungsinhaber, die an Juden vermietet haben, müssen ihre Mietverhältnisse offenlegen.
September - Ausgehverbot ab 21 Uhr im Sommer, ab 20 Uhr im Winter. Beginn des Zweiten Weltkrieges. Am Versöhnungsfest, einem strengen Fasttag, werden die Juden gezwungen, unter Übertretung ihres Religionsgesetzes alle Radiogeräte abzuliefern.
1940
Juni - Mit dem Ziel der Evakuierung betagter Juden fordert das württembergische Innenministerium die Landräte auf, binnen zwei Wochen geeignete Gebäude zu melden, die sich als „Altersheime“ eignen.
Juli - Ausschluss der Juden vom Fernsprechverkehr.
September - Juden dürfen sich in der Öffentlichkeit nicht ohne Judenstern zeigen, ohne schriftliche Erlaubnis der Ortspolizei dürfen sie ihre Wohngemeinde nicht verlassen. Juden dürfen keine Orden und Ehrenzeichen mehr tragen.
1941
Oktober - Verbot der Emigration aus dem Deutschen Reich.
November - Kameras, Ferngläser und Schreibmaschinen in jüdischem Besitz werden registriert.
Dezember - 1000 württembergische Juden werden von Stuttgart aus nach Riga deportiert.
1942
Januar - Wannseekonferenz: Beschluss zur „Endlösung“ der Judenfrage
Februar - Juden dürfen keine Haustiere mehr halten und sind vom Zeitungsbezug ausgeschlossen.
März - Jüdische Wohnungen müssen gekennzeichnet werden.
April - Die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel ist Juden untersagt.
26. April - Ein zweiter Deportationszug verlässt Stuttgart. Zu den Juden, die nach Izbica deportiert werden, gehören auch das Ehepaar Guggenheim und sein acht Monate alter Sohn Ury. Niemand hat diesen Transport überlebt.
Pfalzstraße 36, Stolpersteine verlegt am 5. Oktober 2009.

© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bild: Anke Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative

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