Cannstatter Stolperstein-Initiative

Karl und Emilie Oppenheimer: Auswanderung gescheitert

Am 25. Oktober 1941 kam der Cannstatter Elektromeister K zur jüdischen Familie Oppenheimer1 in die Daimlerstraße 56, um in ihrer Wohnung die Lampen abzumontieren. Er wurde deshalb im Zuge der „Wiedergutmachung“ als Zeuge vernommen und gab an, das Ehepaar habe zu seiner Kundschaft gehört, auch sei seine Frau zusammen mit Emilie Oppenheimer zur Schule gegangen. Das Ehepaar saß seinen Worten zufolge apathisch in einem Zimmer, Gepäck um sich herum aufgeschichtet. Von einem bevorstehenden Abtransport der Möbel habe er nichts bemerkt, sie hätten unverrückt an den Wänden gestanden und zwar ausnahmslos, er habe nämlich in allen Räumen die Lampen abmontiert.

Den beiden 64-jährigen Oppenheimers war kurz zuvor mitgeteilt worden, sie würden nach Haigerloch in ein jüdisches Altersheim2 evakuiert. Ihre Apathie wird verständlich, wenn man weiß, dass Karl Oppenheimer an den Folgen eines Schlaganfalls litt. Ferner muss man sich die Einschränkungen, Schikanen und Bedrohungen vergegenwärtigen, denen deutsche Juden seit Jahren ausgesetzt waren. Spätestens die Aberkennung des Wahlrechts mit der 1. Verordnung zum Reichsbürgergesetz vom 14. November 1935 betraf die Familie unmittelbar. Karl Oppenheimer war Viehhändler gewesen, womöglich verlor er mit dieser Verordnung auch das Amt eines Schiedsrichters beim Württembergischen Viehhändlerverband, das er zeitweilig inne hatte. Mehrere Zeugenaussagen stimmen darin überein, dass er ein angesehener Geschäftsmann war und ein ansehnliches Einkommen aus einer gut gehenden Viehhandlung bezog. Freilich musste er sein Geschäft schon 1936 aufgeben, zu groß war der Boykottdruck geworden. Auch als die jüdischen Vermögen im Jahre 1938 angemeldet werden mussten, waren Oppenheimers betroffen. Ihr Reinvermögen, das der NS-Staat ihnen alsbald zu rauben gedachte, betrug zu diesem Zeitpunkt rund 32.000,- RM.3 Im selben Jahr wurden den deutschen Juden die freie Arztwahl verweigert und die zusätzlichen Vornamen Sara und Israel aufgezwungen. Wie ein Nadelstich wirkt es nachträglich, dass die Oppenheimers im Mai 1939 ihr weniges Silberbesteck und eine 14-karätige goldene Herrenuhr zur Pfandleihanstalt tragen mussten und ganze 27,- RM dafür erhielten. Aber was bedeutete damals eine goldene Uhr, welche Erinnerungen knüpften sich daran? Unzweifelhaft bedrohlich wurde die Situation, als kaum 100 m vom Haus Daimlerstraße 56 entfernt am 9. November die Cannstatter Synagoge in Flammen aufging. Die Feuerwehr schaute dem Brand nicht nur untätig zu, sie hatte das Feuer selbst gelegt!. Karl und Emilie Oppenheimer gehörten der israelitischen Gemeinde wahrscheinlich nicht nur formal, sondern als praktizierende Juden an. Ein im Zuge der Wiedergutmachung eher nebenbei gegebener Hinweis lässt darauf schließen: Ihre Eltern hätten „alles Geschirr in doppelt für Fleisch- und Milchgerichte“ besessen, teilte die Tochter Anni Schwarz in einer Auflistung der verlorenen Wohnungseinrichtung mit. Die Synagoge zerstört, die Tora vernichtet, die Glaubensgenossen verfolgt – da mussten Erinnerungen an Verfolgung und Pogrome vergangener Zeit aufleben und die Angst der Gegenwart zur Panik steigern.

Den Terror der Straße und diskriminierende, die Geschäfte beeinträchtigende Vorschriften flankierte der Staat mit einer von Reichsmarschall Göring gegen die deutschen Juden verhängten „Sühneleistung“. Sie traf die Oppenheimers mit 7.800,- RM „Judenvermögensabgabe“ schwer, sie wollten ja vom Zinsertrag ihres Vermögens leben. Damit Angst und Not kein Ende fanden, wurden immer neue Schikanen erdacht. Dazu gehörten 1939 Ausgehbeschränkungen, die Zwangsabgabe aller Rundfunkgeräte in jüdischem Besitz und ein Gesetz zur Einrichtung von „Judenhäusern“. Deportationen fanden zwar 1940 von Deutschland aus noch keine statt, aber erste Gerüchte über Mordaktionen im Osten könnten durchaus schon im Umlauf gewesen sein. Im April 1941 wurde als spezielle Stuttgarter Drangsalierung erfunden, dass Juden nur noch in der Seestraße einkaufen durften. Ab 19. September wurden sie als Träger des Judensterns gebrandmarkt, verächtlichen oder mitleidigen Blicken oder pöbelhafter Behandlung ausgesetzt. Nun waren sie vollends aus der so genannten Volksgemeinschaft ausgegrenzt. Dies umso mehr als man in einer Falle saß: Die Absicht der Oppenheimers, das Land zu verlassen4, war mit dem Auswanderungsverbot für Juden vom 23. Oktober 1941 endgültig zunichte.

Apathisch und einsam wird es die Oppenheimers auch gemacht haben, dass sie keinen Kontakt mit ihren Töchtern pflegen konnten. Alice lebte mit ihrem Mann und ihrem vierjährigen Sohn David im weit entfernten Breslau.5 Annie war nach Amerika ausgewandert, ebenso viele Bekannte und Freunde. Liddy Marx zum Beispiel, die Schwiegertochter von Babette Marx, hat berichtet, bis zu ihrer Auswanderung sei sie regelmäßig zu den Oppenheimers gekommen.

Als das Ehepaar am 25. Oktober 1941 das eigene Haus in Bad Cannstatt verlassen musste, blieb in der Daimlerstraße die Wohnungseinrichtung bis auf das Wenige zurück, was nach Haigerloch mitgenommen werden durfte. Widergutmachung hierfür ist später zunächst mit der Begründung verweigert worden, die Eigentümer hätten zu diesem Zeitpunkt noch genehmigungsfrei über ihre Sachen verfügen können. Sie hätten sie veräußert oder „von berechtigten Sorgen um ihre Zukunft erfüllt“ sich nicht mehr darum gekümmert, die Sachen im Stich gelassen!6

Der Cannstatter Geschäftsfreund und Käufer ihres Hauses hat später angegeben, er habe die Oppenheimers mehrfach in Haigerloch besucht und sie mit Lebensmitteln versorgt. Dennoch können die zehn dort in drangvoller Enge verbachten Monate aber nur eine trübe, von bösen Ahnungen geprägte Zeit gewesen sein. Hatte man bis dahin vielleicht nur gerüchteweise von Deportationen gehört, so waren sie jetzt zur Gewissheit geworden. Am 1. Dezember 1941 wurden 1000 württembergische Juden ins „Reichskommissariat Ostland“ transportiert, ohne dass beruhigende Nachrichten von ihnen eintrafen. Ein Abschied ohne Wiederkehr folgte schon am 26. April 1942 für weitere 278 Personen.

Für viele Drangsale, die ihnen auferlegt wurden, wurden die Juden zusätzlich finanziell ausgebeutet. So müssten Oppenheimers und ihre Schicksalsgenossen für einen Platz im „Altersghetto“ Theresienstadt 2000,- RM Eintrittsgeld und für fünf Jahre im Voraus 180,- RM Pflegegeld pro Monat entrichten. Am 19. August wurden sie zunächst nach Stuttgart zurückgebracht. „Drei bestellte Waggons mit zusammen 136 Menschen aus Haigerloch bei Hechingen wurden nacheinander in drei Zügen zunächst über die Hohenzollerische Landesbahn nach Eyach geführt und anschließend mit Regelzügen der Reichsbahn über Tübingen nach Stuttgart befördert.“7 Hier folgten in der Ehrenhalle des Reichsnährstandes auf dem Killesberg zwei Nächte des Wahnsinns und des Grauens (Resi Weglein), dann der Fußmarsch zum Nordbahnhof und schließlich der Transport in Viehwaggons ins Konzentrationslager Theresienstadt. Karl Oppenheimer war mit seinen Lebenskräften bald am Ende, er starb schon am 15. September. Größer war die Widerstandskraft seiner Frau. Emilie Oppenheimer überstand die katastrophalen Verhältnisse des überfüllten Konzentrationslagers fast zwei Jahre, bis sie am 16. Mai 1944 zusammen mit 2500 Leidensgefährten nach Auschwitz verschleppt wurde und diesen Tag höchstwahrscheinlich nicht überlebt hat.

Das Anwesen Daimlerstraße 56 hatten Karl Oppenheimer und sein Schwager David Kaufmann 1906 gemeinsam erworben. Sie hätten wohl kaum jemals an Verkauf gedacht, aber nachdem die Kaufmanns ausgewandert waren, entschloss sich Karl Oppenheimer aufgrund der Verfügung über den Einzug des jüdischen Vermögens vom 3. Februar 1938 zu diesem Schritt. Daraus ergab sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Auseinandersetzung, die man als Beweis für die Unmöglichkeit von Wiedergutmachung mit juristischen Mitteln ansehen kann. Karl Oppenheimer konnte sein Haus nämlich an den oben erwähnten Geschäftsfreund, Metzgermeister M., verkaufen, der sich unter Berufung auf diese Freundschaft später gegen eine Rückgabe des Anwesens wehrte. Er habe die Oppenheimers bis zuletzt noch in Haigerloch besucht und mit Lebensmitteln versorgt, ja selbst nach Theresienstadt habe er noch Päckchen geschickt. Man mag solche Aussagen bezweifeln, fest steht, dass M den Oppenheimers im Kaufvertrag ein Bleiberecht in ihrer Wohnung eingeräumt hat. Auch mit anderen Cannstatter Juden hat er Zeugenaussagen zufolge noch Umgang gehabt, als dies schon gefährlich war. Außerdem gibt es einen zuverlässigen Zeugen für das freundschaftliche Einvernehmen, in dem der Hausverkauf erfolgte. Ein Notar, von dem bekannt ist, dass er sich für jüdische Belange eingesetzt hat, gab Folgendes zu Protokoll: „Die Verkäufer boten das Anwesen [M.] an, sie erklärten, wie der unterzeichnete Notar bezeugen kann, dass, wenn sie verkaufen müssten, sie das Anwesen an ihren jahrzehntelangen Bekannten […] verkauft wissen wollten. Die Vertragsparteien standen auf dem ‚Du-Fuß‘; an dies kann sich der unterzeichnete Notar genau erinnern.“ Über den Preis sei so verhandelt worden: „Sind Dir 47.000, RM als Kaufpreis recht?“ habe Oppenheimer gefragt und von M zur Antwort bekommen: „Wenn Dir 47.000,- RM recht sind, sind sie mir auch recht.“

Nun muss man wissen, dass die Daimlerstraße 56 bei einem Luftangriff im Oktober 1944 zerstört, aber nach dem Krieg von M und seiner Frau in Eigenarbeit und unter Aufwendung erheblicher Mittel teilweise wiederaufgebaut wurde. Als Anni Schwarz nach dem Krieg das Grundstück ihrer Eltern zurückhaben wollte, war M. verständigungsbereit. Es lässt sich aber nachvollziehen¸ dass er sich mit dem Verlangen, das Haus zu behalten, subjektiv im Recht fühlte. Nicht weniger verständlich ist die Forderung von Anni Schwarz, wenigstens das Trümmergrundstück ihres Elternhauses zurückzubekommen. Vom freundschaftlichen Verhältnis ihres Vaters mit M. und den Umständen des seinerzeitigen Verkaufs hatte sie vielleicht keine Ahnung. Daimlerstraße 56, Stolperstein verlegt am 12. April 2011.Wer wollte ihr im Übrigen das Recht auf Entschädigung nach all dem Unrecht absprechen, das ihren Eltern und mittelbar auch ihr angetan wurde. Sie muss gewusst und empfunden haben, dass die Veräußerung nicht dem wirklich freien Willen ihrer Eltern entsprang, sondern unter dem bedrohlichen Druck erfolgte, der auf Juden damals ausgeübt wurde. In diesem Sinne hat später auch das Gericht geurteilt. Der Konflikt hat sich über zweieinhalb Jahre hingezogen und mehrere Anwälte beschäftigt, bis schließlich das Landgericht Stuttgart auf Rückgabe des Grundstücks an Anni Schwarz entschied, die ihrerseits Ausgleichszahlungen an M leisten sollte. Daraufhin kam endlich ein Vergleich zustande, der das Grundstück samt dem von ihm errichteten Nachkriegsbau M beließ, der nun seinerseits Annie Schwarz finanziell entschädigte. Ob die Parteien sich damit auch menschlich näher gekommen sind, ist leider nicht überliefert.

© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bild: Anke Redies

  • 1. StAL EL 350 I Bü 21004; FL 300/33 I; K 50 Bü 3167
  • 2. Helmut Gabeli aus Haigerloch verdanke ich den Hinweis, dass Oppenheimers in kein Altersheim kamen, sondern seit 25. Oktober 1941 bei Frau Bella Bernheim, geb. Hilb, wohnten: Haag 234, heute Im Haag 45.
  • 3. StAL K 50 Bü 3167
  • 4. Bei der „Wiedergutmachung“ wurde § 7 des Vertrags über den Verkauf des Anwesens Daimlerstraße 56 zitiert, worin Karl Oppenheimer versichert, die Auswanderung zu betreiben.
  • 5. Zu ihrem Schicksal stellt ein Erbschein des Nachlassgerichts Cannstatt vom 10, Januar 1951 fest, dass die weitere Tochter der beiden Eheleute Oppenheimer, Frau Alice Cahn, geb. Oppenheimer, Ehefrau des Fritz Cahn, Kaufmanns in Breslau, mit ihrem Kind Georg Michael Cahn, geb. in Breslau am 15. April 1937, mit ihren Eltern verschleppt wurde und nach der von der Schwester Anni Schwarz abgegebenen eidesstattlichen Erklärung mit der Mutter gleichfalls ums Leben kam. Der Tod der Frau Cahn und ihre Sohnes wird […]ebenfalls auf den 8. Mai 1945 vermutet. Beide sind daher gleichzeitig mit der Mutter gestorben[…]. EL 350 I Bü 21004
  • 6. StAL FL 300/33 I
  • 7. Alfred Gottwald, Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus den Deutschen Reich 1941-1945. Eine kommentierte Chronologie. Wiesbaden 2005, S. 311 f.

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