Cannstatter Stolperstein-Initiative

Marie Hock, ein Opfer der NS-„Euthanasie“

Marie Hock in jungen, glücklicheren Jahren (undatiert). Marie Hock mit ihrem Mann in den Kursaal-Anlagen an der Kreuznacher Straße. Marie Katherine Hock wurde am 15. März 1879 als eines von 14 Geschwistern in Waiblingen geboren. Ihre Eltern waren Ferdinand Burk und seine Frau Barbara, geb. Helmer. Über ihre Kindheit und frühe Jugend ist nichts bekannt. Sie mag 15 Jahre als gewesen sein, als sie sich als Hausangestellte verdingte. Sie war unter anderem in Lahr, in Stuttgart und umliegenden Gemeinden „in Stellung“. Am 15. Juli 1911 heiratete sie den aus Rosheim (Elsass) stammenden Alois Kuch und wohnte mit ihm in Cannstatt, Schmidener Straße 90. Ihr Sohn, der spätere Kunstmaler und Malermeister Erwin Kuch, wurde am 8. September 1912 in Cannstatt geboren und blieb das einzige Kind des Paares.

Alois Kuch erlitt im Ersten Weltkrieg eine schwere Gasvergiftung, wurde vorzeitig aus dem Militärdienst entlassen und erlag den Folgen der Vergiftung schon im Januar 1917. Marie Kuch war nun mit ihrem fünfjährigen Sohn auf sich alleine gestellt, bis sie Johann Hock aus Triberg im Schwarzwald kennenlernte und heiratete. Dieser hatte sein Erbe einem Kinobesitzer geliehen, welcher das ihm anvertraute Geld jedoch veruntreute. Als Johann Hock aufgrund der Weltwirtschaftskrise geraume Zeit arbeitslos wurde, geriet die Familie in finanzielle Schwierigkeiten. Diese Schicksalsschläge führten bei Marie, die der Familie als liebevolle und sensible Frau in Erinnerung blieb, zum Ausbruch einer Depression. Nachdem sich die finanzielle Lage der Familie entspannt hatte, konnte sie 1931 in der Göppinger Privatheilanstalt „Dr. Landerer – Christophsbad“ untergebracht und behandelt werden. Aus nicht mehr bekannten Gründen wurde sie 1935 nach Winnental (Winnenden) verlegt, wo ihr erstmals eine Psychose diagnostiziert wurde. Im Jahr darauf kehrte sie für einen Monat nach Hause zurück, dann wurde ihre Behandlung in Winnenden fortgesetzt, wo sie mittlerweile als schizophren behandelt wurde. In der Familie lebt die Erinnerung, Marie Hock hätte im Mai 1940 entlassen werden sollen, jedoch habe ihr die Klinik vorgeschlagen, noch ein paar Tage zu bleiben. Wenn diese Erinnerung zutrifft, handelte es sich um einen tödlichen Vorschlag, denn Marie Hock wurde am 30. Mai 1940 zusammen mit 74 weiteren Patientinnen und Patienten nach Grafeneck „verlegt“, wie es in der verschleiernden Sprache der NS-Funktionäre hieß. Der Familie wurde Herzversagen als Ursache und der 12. Juni 1940 als Tag ihres Todes mitgeteilt. Tatsächlich waren alle Patientinnen und Patienten des Transports von Winnental nach Grafeneckt noch am selben Tag dort vergast und verbrannt worden. Qualvoll und auf unmenschliche Weise verlor Marie Hock ihr Leben mit erst 61 Jahren.

Dass hilflose Menschen spurlos „ausgemerzt“ werden konnten, war möglich geworden, weil den „Predigern des schnellen Todes“ nicht von Anfang an entschieden entgegengetreten und die Menschenwürde nicht entschlossen verteidigt wurde. Als dann die Theorie in die Tat umgesetzt und das Morden in vollem Gange war, war es zu spät. Widerstand und offene Worte waren lebensgefährlich geworden. Mehr als 80 Jahre nach Marie Hocks Tod ist es wieder dringend geworden, Verächtern von Demokratie und Menschenrechten, Populisten und Leugnern des Holocaust entschieden entgegenzutreten.

„Die Würde des Menschen ist unantastbar“, steht im Grundgesetz. Marie Hock ist dieser Würde beraubt und qualvoll ermordet worden. Daran und an die Neigung des Menschen zur Hybris soll ihr Stolperstein erinnern.
Schmidener Straße 90, Stolperstein verlegt am 16. April 2012

© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: Robin Sanwald, Anke Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative

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