Cannstatter Stolperstein-Initiative

Otto, Sonja, Thomas und Albert Kurz: Vier Cannstatter Sinti-Kinder

Sinti oder Zigeuner passten genauso wenig ins nationalsozialistische Bild einer Herrenrasse wie Juden. Diskriminiert waren sie von Anfang an, aber am 16. Dezember 1942 hat Reichsführer-SS Heinrich Himmler die „Endlösung der Zigeunerfrage“ angeordnet. Daraufhin wurden weit über 20 000 Menschen in ein eigenes „Zigeunerlager“ des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau verbracht, darunter die Kurz-Kinder aus Bad Cannstatt./span>

Otto Kurz, ca. 1940.Crailsheim, 9. Mai 1944: Vier Stuttgarter Sinti-Kinder im zarten Alter von sechs bis zehn werden zum Bahnhof Crailsheim gebracht. Die drei Älteren – Otto, Sonja und Thomas Kurz – und weitere 30 Sinti-Kinder kommen aus der St. Josefspflege in Mulfingen (bei Künzelsau); der Jüngste – Albert Kurz – aus dem Kinderheim St. Josef in Baindt (bei Ravensburg). Sie sind Zöglinge der württembergischen Landesfürsorge. Der Schutzpolizei Crailsheim war vorher „Bahnhofdienst“ angekündigt worden. Zweck: „Überwachen eines Transportes Zigeunerkinder, welche nach Auschlitz [!] verschubt“ werden. Dem Transport werden eine hochschwangere Frau mit zwei Kindern, 36 Kinder aus der Heimerziehung in Mulfingen, Hürbel und Baindt, sowie das Begleitkommando angehören.

Was war geschehen? Im Februar 1939 hatte das Amtsgericht Bad Cannstatt den Eltern, Otto und Franziska Kurz, das Sorgerecht für ihre Kinder abgesprochen und Heimerziehung angeordnet. Eine NSV- Fürsorgerin hatte bei ihrer Stippvisite im dritten Stock der Badergasse 6, wo die Familie endlich ein unmöbliertes Zimmer gefunden hatte, Zustände entdeckt, die ihr „auf die Dauer unhaltbar und unmöglich“ erschienen. Erschwerend kam hinzu, dass der Vater von den Behörden bereits als „Zigeunermischling“ und „Asozialer“ eingestuft und abgestempelt war. Als die Kurz-Kinder daraufhin „von der Mutter gerissen wurden“, war Otto, der Älteste, viereinhalb Jahre, der Jüngste, Albert, gerade mal acht Monate alt. Im Kinderheim Baindt wuchsen sie heran, zur Einschulung jedoch wurden sie jeweils der St. Josefpflege in Mulfingen zugewiesen. Nun war die Josefspflege nicht irgendein katholisches Erziehungsheim, sondern per Erlass des württembergischen Innenministers, 1938 für die Aufnahme schulpflichtiger Fürsorgezöglinge der Gruppe „Zigeuner und Zigeunerähnliche“ auserkoren, und für diese Zwecke „gleichgeschaltet“ worden. Über Zu- und Abgang der Kinder wachte der Landesjugendarzt Dr. Max Eyrich in Stuttgart, der seine Aufgabe darin sah, „erbbiologisches Sieb dieser Jugend“ zu sein. Die in Mulfingen zusammengefassten Kinder dienten schließlich Eva Justin, einer Mitarbeiterin der „Rassenhygienischen Forschungsstelle des Reichgesundheitsamts“ in Berlin, als lebende Studienobjekte für ihre Doktorarbeit auf dem Gebiet der Rassenkunde. Ein Exemplar des obskuren Machwerks überreichte sie übrigens „dem Jugendamt Stuttgart“, das für diesen Zweck großzügigst Unterlagen bereitgestellt haben dürfte.

Während Justin an der Endfassung ihrer Studie arbeitete, hat Heinrich Himmler am 16.12.1942 die „Endlösung der Zigeunerfrage“ angeordnet. In das daraufhin erbaute „Zigeunerlager“ des KZ Auschwitz-Birkenau wurden 1943 von Ende Februar bis Mitte April 12 814 Menschen verbracht; bis zur Auflösung des Lagers in der Nacht vom 2. auf 3. August 1944 wurden weitere 10 000 Sinti und Roma dorthin verschleppt. Der Transport „Crailsheim ab 15.41 Uhr“ (Rekonstruktion anhand des Deutschen Kursbuchs) traf nach drei Tagen und Nächten am 12. Mai 1944 in Auschwitz ein. Während der übl(ich)en Aufnahmeprozedur erhielten Otto, Thomas und Albert die Häftlings-Nummern Z-9875, Z-9876 und Z-9874 in den Arm tätowiert; Sonja Z-10642.Überlebende dieses Transports haben später berichtet: „Dort waren wir Mulfinger Kinder noch vierzehn Tage im Block 16 zusammen. Doch dann haben sie uns getrennt.“ Die kleineren Kinder – darunter unsere Kurz-Kinder – „kamen in den Block 14 (Waisenblock)“. Die jüdische Häftlingsärztin Lucie Adelsberger berichtet von der Liquidierung des „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau am 2. August 1944, und damit von den letzten Stunden unserer Kurz-Kinder: „Gegen 22.30 Uhr hielten die SS-Männer vor unserem Block … Es galt nicht uns, sondern dem Waisenblock gegenüber. Wir hören die kurzen Befehle der SS, das Kreischen der Kinder. Ich erkenne die einzelnen Stimmen: Die Älteren wehren sich hörbar, rufen um Hilfe, brüllen Verrat, Schufte, Mörder! … Nach einer knappen Stunde kehren die Wagen zurück, zu unserem Block …“

Quellennachweis: Diözesanarchiv Rottenburg-Stuttgart, Dokumentation „Sinti-Kinder“ (Bild von Otto Kurz: Bundesarchiv, B 162/392, Bild 5).
Hinführende Lektüre: Michail Krausnick, „Auf Wiedersehen im Himmel“. Die Geschichte der Angela Reinhardt, Taschenbuchausgabe Würzburg 2005.
„Auf Wiedersehen im Himmel“. Die Sintikinder der St. Josefspflege, ein Film des Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Zusammenarbeit mit dem Südwestfunk.
Das Dokumentations- und Kulturzentrums Deutscher Sinti und Roma in Deutschland, Heidelberg, bietet eine Wanderausstellung an, in der auch die „Mulfinger Kinder“ thematisiert sind.
Gedenkstätten: Gedenktafel an der St. Josefpflege Mulfingen (1984), das erste öffentliche Denkmal für Sinti und Roma in Baden-Württemberg.
Skulptur im Jugendamt Stuttgart, Wilhelmstraße 3, eine Initiative der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Jugendamts.
Badergasse 6, Stolpersteine verlegt am 29. April 2006

© Text: Stefan Janker, Rottenburg
© Bilder: StAL EL 48/ 2 I Bü 955, Anke Redies

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