Cannstatter Stolperstein-Initiative

Babette Marx: Mitte einer Familie

Babette Marx war 38 Jahre alt, als ihr Mann Eduard, Fabrikant in der damaligen Oberamtsstadt Cannstatt, im Februar 1904 mit noch nicht 50 Jahren starb. Ihre Tochter Grete war drei, die Söhne Alfred und Julius waren fünf und neun, Leopold 15 Jahre alt. Nicht nur in Erziehungsbelangen war die Mutter plötzlich auf sich gestellt, drängend war auch die Frage, wer die Verantwortung für die Mechanische Gurten- und Bandweberei Gutmann & Marx übernehmen sollte.


Babette und Eduard Marx mit ihren Söhnen Leopold und Julius. (Foto um1900)Das Unternehmen war jetzt gemeinsames Eigentum von Frau Marx und ihren vier Kindern und sollte in ungeteilter Erbengemeinschaft weitergeführt werden. In dieser Notlage stellte sich der frühere Miteigentümer Bernhard Gutmann für einige Jahre als Prokurist zur Verfügung. Vor allem aber sprang Rechtsanwalt Martin Rothschild in die Bresche, Babette Marx’ jüngerer Bruder, der nicht nur geschäftlich zu raten, sondern auch den Kindern ein Stück weit den Vater zu ersetzen vermochte. Weil aber die Frage der Leitung des Familienunternehmens mit damals schon über 100 Mitarbeitern auf lange Sicht beantwortet werden sollte, musste Leopold, Babettes Ältester das Gymnasium1 schon mit 15 Jahren verlassen und sich durch Lehre, Fachschule und Auslandsaufenthalte auf die unvorhergesehene Aufgabe vorbereiten.

Der Mutter wird die dem Sohn so unverhofft abgeforderte Lebensentscheidung, keine geringe Sorge bereitet haben, zumal Leopold von sich aus kaum Unternehmer geworden, sondern eher einer früh schon ausgeprägten Neigung zur Literatur gefolgt wäre. In seinem stark autobiografisch gefärbten Roman „Franz und Elisabeth“ schreibt er Jahrzehnte später: „Das ganze Leben schien mir dazu da, mich zu bedrücken: meine innere Einsamkeit, der aufgezwungene Beruf, das Heimweh nach Lernen und Büchern, das Jungsein überhaupt. All das machte mich mürrisch, unleidlich, eigensinnig. Kein Wunder, dass ich dadurch zu meiner Umgebung, meiner guten Mutter vor allem, oft in gespannten Gegensatz geriet.“2 Was zu diesem Gegensatz beigetragen und ihn gewiss vertieft hat, war die Tatsache, dass Leopold Marx’ erste Liebe weder jüdisch noch standesgemäß, sondern unehelich geboren und katholisch war. Mit dieser Brautwahl war die Familie, war vor allem die Mutter alles andere als einverstanden. Wohl war man, wie der Enkel Walter Marx in seinen Lebenserinnerungen schreibt, in „politischen und gesellschaftlichen Auffassungen liberal ausgerichtet, aber liberal nur bis zu einem gewissen Grade.“ Wollte ein Familienmitglied unstandesgemäß heiraten, „dann war der ganze Liberalismus plötzlich verschwunden.“3 Man kann sich deshalb vorstellen, welche Konflikte Babette Marx austrug, aber eben auch durchlitt, wenn die Wahl ihres Sohnes Julius auf seine Sekretärin fiel, deren Vater Viehhändler war, und Alfred, ihr Jüngster, eine Mischehe mit einer Christin einging. Nur Leopold hat nach schweren inneren Kämpfen „standesgemäß“ geheiratet.

Verlief das Leben der Familie also keineswegs spannungsfrei, so war die zierliche Frau mit den mädchenhaften Zügen doch unbestritten der „Baum, um den herum sich das Familienleben abspielte und wo es seinen Mittelpunkt fand. Nicht von ungefähr traf man sich in ihrer Wohnung zum Feiern und zum Klagen, oder einfach um die Familienbande zu stärken. Ihr Geburtstag am 1. Dezember war bei ihren Kindern für viele Jahre nach ihrem Tod und nachdem sie selbst sich in ferne Länder zerstreut hatten ein besonderer Tag. An ihm telefonierte man miteinander oder man verbrachte ihn gemeinsam, wenn die räumliche Entfernung dies erlaubte.“4

Bei allen Einwänden, die Babette Marx (zunächst) gegen die Bräute ihrer Söhne erhob, was deutsch-patriotische Gesinnung betrifft, konnte die Einigkeit kaum größer sein. Sie wurde mit dem Charlottenkreuz ausgezeichnet, weil „nach den hier vorliegenden Akten der Kriegshilfe von Industrie und Handel in Württemberg von der Firma Mechanische Gurten- und Bandweberei B. Gutmann & Marx, Cannstatt an einmaligen und regelmäßig wiederkehrenden Beiträgen in der Zeit von 1914-1918 insgesamt 127 243,30 Mark als Spenden für die Kriegshilfe von Industrie und Handel geleistet wurden. Auftragsgemäß bestätige ich Ihnen, dass die Beiträge der Firma Gutmann & Marx weit über die von Firmen der gleichen Grösse und Branche gegebenen Beiträge hinausgehen.“5 Vielleicht lässt sich vor diesem Hintergrund der heute kaum mehr nachvollziehbare Eifer verstehen, mit dem die Söhne im Ersten Weltkrieg an die Front drängten. Julius meldete sich, obwohl er „als Chef eines für die Kriegsführung wichtigen Industriebetriebs mit Leichtigkeit als unabkömmlich vom Militärdienst hätte zurückgestellt werden können“ am ersten Tag des Ersten Weltkriegs freiwillig zum Dienst im Heer. „Auch Onkel Leopold hätte gerne seinen Patriotismus unter Beweis gestellt. Aber irgend jemand musste daheim bleiben, um in der Fabrik nach dem Rechten zu sehen. Doch er bestand darauf, bis es ihm gelang, dass Vater [sein Bruder Julius] dazu beurlaubt wurde, seinen Platz an der Heimatfront einzunehmen. […] Vater war ganz und gar nicht glücklich über seine erzwungene Beurlaubung vom Militärdienst. Ungeduldig wartete er auf die Erlaubnis, wieder bei seiner ursprünglichen Einheit einzutreten. Dieser Wunsch wurde ihm im Frühjahr 1918 erfüllt, als an der Front ein dringender Bedarf an einsatzbereiten Truppen entstanden und die Produktion in den Fabriken aus Mangel am benötigten Rohmaterial faktisch zum Stillstand gekommen war. Und wiederum gelang es ihm, unversehrt zu entkommen. Das gleiche Glück hatte Onkel Alfred, der im Jahre 1918 das militärdienstpflichtige Alter erreicht hatte.“6 Es wird die Sorgen der Mutter kaum verringert haben, dass Julius mit dem Eisernen Kreuz II. Klasse, der Württembergischen Verdienstmedaille, dem Charlottenkreuz und dem Frontkämpfer-Ehrenkreuz ausgezeichnet wurde. Vielmehr wird sie wie jede Mutter Angst um die an der Front stehenden Söhne gehabt und sich um Leopold gesorgt haben, der schon nach kurzer Zeit in französische Kriegsgefangenschaft geriet und erst 1919 fliehen konnte.

Der Heimgekehrte schreibt zwar im Rückblick, das Schwabenland habe nach Weltkrieg und Revolution „viel von seinem heimlichen Zauber, seinem Eingebettetsein in Landschaft und Geschichte eingebüßt, seit ihm die Könige genommen wurden“7, aber bei allen Sorgen, die Firma und Familie in unruhigen Zeiten mit sich brachten, konnte die Familie und mit ihr Babette Marx doch in Frieden leben. Die Mechanische Gurten- und Bandweberei florierte, die Zahl der Mitarbeiter hatte sich auf 200 verdoppelt. Die Enkel Erich Josua (1921), Ephraim (1923), Sofie (1923), Walter (1925) und Fritz (1927) wurden geboren, Alfred studierte und schlug mit Erfolg die Richterlaufbahn ein, Tochter Grete besuchte die Kunstgewerbeschule und heiratete den Direktor des Stuttgarter Konservatoriums Karl Adler. Leopold pflegte enge Kontakte zu dem bedeutenden Philosophen Martin Buber und war maßgeblich an der Gründung des Stuttgarter Jüdischen Lehrhauses beteiligt.

Dann aber kam das Jahr 1933, und der Naziterror setzte ein. Der Schwiegersohn Karl Adler erlitt im März eine Kopfverletzung und musste stationär behandelt werden, als ihn eine Schlägerbande mit einem Eisenrohr attackierte. Bald darauf wurde er aus seiner Stellung als Leiter des Stuttgarter Konservatoriums entlassen. Wenig später, am 1. April rufen SA und SS vor jüdischen Geschäften, Kanzleien und Praxen zum Boykott auf. Firma und Familie Marx waren zwar nicht unmittelbar betroffen8, dennoch konnte niemand mehr darüber hinwegsehen, dass die Nazis auf Worte Taten folgen ließen. Zu diesen Taten gehört die 1935 erschienene Hetzschrift „Deutscher kaufe nicht beim Juden!“.9 Sie führt das Marx’sche Unternehmen10 ebenso auf wie Martin Rothschild und seinen Kompagnon Erich Dessauer. Zuvor schon, im Februar 1934, hatte Babette Marx’ Enkel Ephraim die Aufnahmeprüfung fürs Gymnasium bestanden, war aber aus rassischen Gründen abgewiesen worden.

So bedrohlich die Umwelt auch geworden ist, die Familie hält zusammen. Um den 1. Dezember 1935, Babette Marx’ 70. Geburtstag, gebührend zu begehen, stellt sie „ein umfassendes Buch mit Photographien, Prosa- und Poesiebeiträgen zusammen. In diesem Buch wurde nicht nur ihr eigenes Leben wiedergegeben, sondern auch dasjenige von allen ihren Kindern und Enkeln. Onkel Leopold, der anerkannte literarische Genius in der Marx-Familie, übernahm den Löwenanteil der Beiträge. Aber auch alle anderen beteiligten sich […] Das ‚Mutterbuch’, wie wir es nannten, wurde vervielfältigt, so dass für alle Familienzweige Kopien bereitlagen. Es ist bis zum heutigen Tage ein hochgeschätztes Stück der Familiengeschichte geblieben, das uns an unser geistiges Erbe und an unsere Familienbande erinnert.“11
Kaum hat sich die Familie mit der Zusammenstellung des Mutterbuches ihres Zusammenhalts vergewissert, folgen Schlag auf Schlag weitere Schikanen und Drangsalierungen. Ende Dezember wird Babette Marx’ jüngster Sohn Alfred nach Jahren der Diskriminierung endgültig aus dem Justizdienst entlassen. Leopold muss, weil seine Söhne nach Palästina auswandern wollten, RM 6.666,65 Fluchtsteuer bezahlen.

Beim Betriebsausflug nach Blaubeuren sah man sich im Mai 1936 erstmals mit dem Schild „Juden unerwünscht“ konfrontiert. Ein deutlicher Hinweis, wie Leopold Marx schreibt, dass es hohe Zeit war, „der zur bitteren Fremde gewordenen Heimat den Rücken zu kehren“ und das Unternehmen zu verkaufen.12 Im Sommer 1938 muss ein Teil des Firmengeländes in Neuffen verschleudert werden, und es beginnen die Verhandlungen über den Verkauf des Unternehmens. Die Mechanische Gurten- und Band-Weberei gelangt zwar in die Hände eines von der Familie bevorzugten Wettbewerbers, aber ein marktgerechter Erlös darf im Zuge der Arisierung selbstverständlich nicht erzielt werden. Schon gar nicht dürfen Juden über ihr eigenes Vermögen frei verfügen. Babette Marx muss deshalb Ende Oktober dem Deutschen Reich, vertreten durch das Finanzamt Stuttgart-Ost, Wertpapiere verpfänden, um Sicherheit für RM 31 500 Reichsfluchtsteuer und andere Reichssteuern zu leisten. Wenige Tage später ging die Cannstatter Synagoge in Flammen auf und klirrten die Schaufenster jüdischer Geschäfte. Zu den Untaten, die der berüchtigten Pogromnacht vom 9./10. November folgten, gehört, dass Frau Marx’ Sohn Alfred, ihr Bruder Martin und ihr Schwiegersohn Karl Adler durch die Gestapo verhaftet wurden. Dasselbe Schicksal traf Leopold am 14. November: „Sie kamen denn auch, schon durch ihr stürmisches Läuten ihr Vorhaben ankündigend, verfügten außer meiner Verhaftung auch die Beschlagnahme des Autos und befahlen mir, mit diesem und ihnen ins Gefängnis zu fahren.“13 Im KZ Dachau, wohin er noch am selben Tag gebracht wurde, traf er seinen Bruder Alfred an. Babette Marx blieb mit ihrem geistig behinderten Bruder Max alleine in Cannstatt zurück, allein und ohne Ratgeber. Zuerst kehrte wahrscheinlich Martin aus dem Gefängnis heim. Am 1. Dezember, ihrem 73. Geburtstag, wurde dann Leopold aus Dachau entlassen, während Alfred noch bis Mitte Dezember dort ausharren musste.

Im Rahmen der Judenvermögensabgabe die nach der „Reichskristallnacht“ erhoben wurde14, wurden der betagten Witwe RM 53 139,50 auferlegt. Man darf diese Zahl leicht mit dem Faktor vier multiplizieren, um die Höhe dieser Belastung in Euro richtig einzuschätzen. Als weitere Schikanen hatten sich die braunen Machthaber den Einzug der Reisepässe und die Zwangsabgabe aller Wertsachen ausgedacht. Babette Marx musste ihr Tafelsilber und sämtlichen Schmuck an die Pfandleihanstalt der Stadt Stuttgart abliefern.

Der 3. Dezember wurde als „Tag der Solidarität des deutschen Volkes“ begangen. Frau Marx und ihre Söhne, die für dieses Volk gespendet und an der Front gekämpft hatten, durften wie alle Juden von 12 bis 20 Uhr ihre Wohnungen nicht verlassen. Darüber hinaus erklärte Heinrich Himmler, Reichsführer SS, Führerscheine und Kfz-Zulassungen für ungültig. Wenige Tage später bekam die Familie ihre Schutz- und Rechtlosigkeit erneut eindrücklich demonstriert. Der Firmenwagen, ein wenig gefahrener Mercedes 170 V, den sich die Gestapo „ausgeliehen“ hatte, wurde völlig demoliert zurückgegeben. Es war dasselbe Fahrzeug, mit dem Leopold Marx sich ins Gefängnis chauffieren musste.

Am 1. Januar 1939 trat die Verfügung in Kraft, dass Juden als zweiten Vornamen Israel bzw. Sara annehmen mussten, sofern sie nicht ohnehin einen typisch jüdischen Vornamen trugen. Im selben Monat wurde in Stuttgart eine erste Judenliste bereitgestellt.15 Ihr ist zu entnehmen, dass Frau Marx und ihre Brüder noch in der Nauheimer Straße wohnen, aber Ende April wird das Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden erlassen, die fortan keinen Mieterschutz gegenüber arischen Vermietern mehr genießen. Diesem Druck fügen sich Babette Marx und Martin Rothschild, sie verlassen ihre langjährige Wohnung und ziehen ins eigene Haus Seelbergstraße 7. Zu diesen Bedrückungen kam, dass Leopold im Mai erneut verhaftet wurde und fünf Tage im Gefängnis zubringen musste. Er war der seit seiner Entlassung aus Dachau bestehenden polizeilichen Meldepflicht nicht nachgekommen, weil er übersehen hatte, dass der 1. Mai zwar Feiertag, aber kein meldefreier Sonntag war.16 Aber nicht nur die persönliche Freiheit war jederzeit bedroht, auch die finanziellen Möglichkeiten wurden Zug um Zug eingeschränkt. Anfang August nimmt das Finanzamt Abtretungsurkunden von Wertpapieren und einen Grundschuldbrief des Gebäudes Seelbergstraße 1 über RM 40.000 in Verwahrung und begründet das unter anderem mit der Sicherung künftig anfallender Reichsfluchtsteuern. Ein Jahr später bestätigt die Schwäbische Bank demselben Finanzamt am 1. November die Sperrung eines Kontos von Babette Marx mit RM 40.000 Guthaben.

Ins Frühjahr 1939 gehört noch, dass die Mechanische Gurten- und Band-Weberei endgültig an den neuen, “arischen” Besitzer überging. Mit Kaufvertrag vom 2. November übernahm dann die Stadt Stuttgart die Gebäude Seelbergstraße 1, 1a und 1b. Siebzig Jahre war das Anwesen im Familienbesitz gewesen, nun aber hieß es, die Erben seien „infolge der Zeitverhältnisse, vor allem wegen der geplanten Auswanderung“ zum Verkauf „gezwungen“.17 Zu diesen Zeitverhältnissen gehörte, dass bald darauf der Krieg ausbrach und in den Marx’schen Garten am Wilhelmsplatz ohne jede Anfrage oder gar Genehmigung ein Bunker (der bald so genannte „Spitzbunker“) gesetzt wurde.18 Leopold Marx hat ihn, als er nach dem Krieg erstmals wieder nach Cannstatt kam, so gesehen:


Wahn, der alles zertrümmert,
ließ ein Zeichen zum Trotz:
Bauchig, nackt, unbekümmert
türmt sich ein roher Klotz;

Wo Kastanien und Flieder
blühten, macht er sich breit. –
Bomben prasselten nieder,
aber der Bunker feit.19

Dass Babette Marx als Jüdin zu dem „rohen Klotz“ auf eigenem Grund keinen Zutritt hatte, macht einmal mehr deutlich, zu welch zynischer Brutalität die Nationalsozialisten fähig waren.

Durch den Krieg waren auch die Fluchtmöglichkeiten dramatisch verringert. Dennoch konnten Leopold und seine Frau Idel Marx im Oktober 1939 ihren Söhnen folgen, die bereits Anfang des Jahres nach Palästina ausgewandert waren. Babettes Tochter Grete Adler und ihr Mann entkamen im November 1940 in die Vereinigten Staaten, beider Sohn Fritz war bereits im Sommer 1939 mit einem Kindertransport nach England gelangt, später, auf dem Weg zu seinen Eltern in Amerika, wurde er ein Opfer des Ozeans. Als letzte Familienmitglieder konnten Julius und Liddy Marx im Juli 1941 Deutschland unter dramatischen Umständen verlassen. Auch sie hatten ihre Kinder vorher in Sicherheit gebracht. Babette Marx und ihre Brüder Max und Martin blieben zurück. Der später von Grete und Karl Adler in Amerika unternommene Versuch, ihr über Kuba doch noch die Ausreise zu ermöglichen, scheiterte vermutlich am Kriegseintritt Kubas am 11. Dezember 1941.

Nachdem ihr die Synagoge genommen war, kam die Cannstatter jüdische Gemeinde in Marx’schen Räumen in der Seelbergstraße zusammen. So auch an Jom Kippur 1939, dem 23. September, als sie mit der Nachricht aus Gebet und Gottesdienst gerissen wurde, die Juden müssten umgehend alle Radiogeräte abliefern. Babette Marx’ damals 14-jähriger Enkel Walter schildert in seinen Lebenserinnerungen, wie er diesen schamlosen Anschlag auf die religiösen Gefühle der Juden erlebt hat: „Margit Oppenheimer und ich luden unser geliebtes Radio auf ein kleines Handleiterwägele. Miteinander zogen wir es den knapp fünf Kilometer langen Weg zu dem für die Ablieferung bestimmten Ort. Wir versuchten so gut wir konnten die neugierigen und starren Blicke und das höhnische Gelächter der Passanten zu ignorieren. Es wurden nur wenige Worte zwischen uns gewechselt. Wir waren zu beschäftigt damit, unsere Tränen zurückzuhalten.20

Weitere Demütigungen und Schikanen folgten 1941. Ab 19. September21 1941 musste der Judenstern getragen werden, und in der Seestraße wurde der so genannte Judenladen eingerichtet. Der städtische Verwaltungsbericht 1941 konstatiert, „daß die in Stuttgart noch wohnhaften Juden […] organisatorisch von der Betreuung der Stuttgarter Volksgenossen völlig abgetrennt wurden und dass zugleich ihre Belieferung mit Lebensmitteln einem gesonderten Einzelhandelsgeschäft übertragen wurde“.22 Dies bedeutete für Babette Marx, da sie die Straßenbahn nicht benutzen durfte, wenigstens zwei Stunden Fußweg für jeden Einkauf. Überdies wurde sie für einen Propagandafilm missbraucht, der die gute Lebensmittelversorgung der Stuttgarter Juden beweisen sollte. Dieser Film überliefert das letzte Bild der mittlerweile von Angst und Not gezeichneten Frau.

Was beabsichtigt und dem Verfasser wie auch den Empfängern des oben zitierten Verwaltungsberichts klar sein musste, geht aus der Formulierung „die in Stuttgart noch wohnhaften Juden“ hervor. Babette Marx durfte nicht mehr lange bleiben.
Am 13. März 1942 musste sie ihre Wohnung in der Seelbergstraße verlassen und wurde ins jüdische „Altersheim“ nach Dellmensingen umgesiedelt.. Es wirft ein Schlaglicht auf die Raubgier der Nazis, dass bei dieser Gelegenheit nicht nur ihre gesamte Wohnungseinrichtung verschleudert, sondern der Zwangsumzug ihr auch noch mit RM 256,— in Rechnung gestellt wurde. Auf Weisung der Gestapo durfte sie ihr Schlafzimmer mitnehmen, alles andere übernahm ein mit der Verwertung der jüdischen Möbel beauftragter Altwarenhändler. In welche Umstände die 76–Jährige sich nun fügen musste, hat ihr Sohn Alfred im Zuge des Wiedergutmachungsverfahrens geschildert: Demnach konnte sie ihr Doppelschlafzimmer mitnehmen, weil ihr geistig behinderter Bruder Max Rothschild keine eigenen Möbel besaß und mit ihr zusammen umgesiedelt wurde. Eines der Betten wurde in dem Zimmer aufgestellt, das Babette Marx mit drei Frauen teilen musste, das andere in dem Zimmer, in dem Max Rothschild mit einigen weiteren Männern untergebracht war. „Es lag dem Zimmer meiner Mutter schräg gegenüber. Der große Spiegelschrank, der in keinem der beiden Zimmer Platz hatte, stand auf dem Flur zwischen den Zimmern.“ Der Dellmensinger Aufenthalt war nur von kurzer Dauer Schon am 22. August 1942 wurde die alte Dame mit ihren Brüdern Max (70) und 23(66) nach Theresienstadt deportiert. Der restlichen Vermögen bemächtigte sich das Deutsche Reich. Am Ende des fatalen Jahres erreichte ihren Sohn Alfred in Stuttgart folgende Nachricht seines Onkels Martin Rothschild: „Eure 6 Karten vom 12. X. kamen sämtlich an, die erste an Mutter am 15.X. Wie hätte sie sich gefreut, wenn sie das Eintreffen noch erlebt hätte.“ Babette Marx war am 14. Oktober 1942 im KZ Theresienstadt gestorben. Seelbergstraße 7, Stolperstein verlegt am 29. April 2006

Quellen und Literatur
Chronik der Stadt Stuttgart 1933-45, Stuttgart 1982.
Hahn, Joachim: Friedhöfe in Stuttgart 4, Steigfriedhof Bad Cannstatt, Israelitischer Teil. Stuttgart 1995.
Marx, Leopold: Franz und Elisabeth, Gerlingen 199989
Marx, Leopold: Mein Sohn Erich Jehoshua, 2. Auflage, Gerlingen 1996
Die Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Baden-Württemberg, 1933 - 1945, herausgegeben von der Archivdirektion Stuttgart. Stuttgart 1969.
Werner, Manuel: Cannstatt – Neuffen – New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Mit den Lebenserinnerungen von Walter Marx. Nürtingen/Frickenhausen 2005.
Zelzer, Maria: Weg und Schicksal der Stuttgarter Juden. Ein Gedenkbuch, herausgegeben von der Stadt Stuttgart, Stuttgart o. J. (1964).

© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: Marx Erben, Anke Redies

  • 1. Das heutige Johannes-Kepler-Gymnasium in Bad Cannstatt.
  • 2. Leopold Marx: Franz und Elisabeth. Erzählung. Gerlingen 1989, S. 67.
  • 3. Manuel Werner: Cannstatt – Neuffen – New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Mit den Lebenserinnerungen von Walter Marx. Nürtingen/Frickenhausen 2005. S. 16.
  • 4. Manuel Werner, Cannstatt – Neuffen – New York, S. 13.
  • 5. Landesarchiv Baden-Württemberg. Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 Bü 2026. Auf Anfrage von Leopold Marx vom Privatsekretariat Robert Boschs am 25.07.1939 mitgeteilt.
  • 6. Manuel Werner a.a.O. S. 14.
  • 7. Leopold Marx: Franz und Elisabeth. Gerlingen 1989. S.19.
  • 8. Vgl. Leopold Marx: Mein Sohn Erich Jehoshua. Sein Lebensweg aus Briefen und Tagebüchern. 2. Auflage, Gerlingen 1996. S. 25.
  • 9. NS.-Hago-Gauamtsleitung Stuttgart(Hrsg.): Deutscher kaufe nicht beim Juden! Verzeichnis jüdischer Geschäfte in Württemberg und Hohenzollern. Stuttgart 1935.
  • 10. Allerdings unter falschem Namen als „Gutmann, Max, Gurten, Cannstatt, Seelbergstr.1“.
  • 11. Manuel Werner, Cannstatt – Neuffen – New York, S. 29. - Als Erich Jehoshua Marx, der älteste Enkel von Babette, 1945 als Angehöriger der jüdischen Brigade 1945 kurz nach Stuttgart kam, berichtete er anschließend seinem Vater: „Nachdem Alfreds dreimal ausgebombt wurden, ist von ihren eigenen Sachen nicht einmal eine Zahnbürste geblieben. Nur ein Gegenstand ist wie durch ein Wunder erhalten geblieben, nämlich das Gedenkbuch zu Großmutters 70. Geburtstag, von Alfred mit einem Schlusskapitel versehen.“ Leopold Marx: Mein Sohn Jehoshua, S. 196.
  • 12. Leopold Marx: Mein Sohn Jehoshua. Sein Lebensweg aus Briefen und Tagebüchern. 2. Auflage, Gerlingen 1996. S. 29.
  • 13. Leopold Marx, a.a.O. S. 55.
  • 14. Aufgrund der Verordnung über eine Sühneleistung der Juden deutscher Staatsangehörigkeit vom 12.11.1938 (Reichsgesetzblatt I 1938, S.1579) und der hierzu erlassenen 1. und 2. Durchführungsverordnung über die Sühneleistung der Juden vom 21.11.1938 und 19.10.1939 (Reichsgesetzblatt I 1938, S. 1638; I 1939, S. 2054).
  • 15. Das Statistische Amt der Stadt Stuttgart hat „für den Dienstgebrauch“ zum 31. Januar 1939 erstmals eine Juden-Liste mit den Anschriften „der in Stuttgart und in den Aussenstadtteilen polizeilich gemeldeten über 20 Jahre alten Juden“ erstellt. Die „unter Beachtung der Nürnberger Gesetze“ angelegte Liste verzichtet „der Einfachheit halber“ auf die Namen Sara und Israel. Schon die nächste, am 27. Oktober 1939 abgeschlossene Liste verzichtet auf diesen Verzicht. Der in den kommenden Jahren bis 1941 von 69 auf 26 Seiten dramatisch schwindende Umfang dieser halbjährlich neu erstellten Verzeichnisse lässt ahnen, wie mit den jüdischen Stuttgartern verfahren wurde.
  • 16. Leopold Marx, Mein Sohn Erich Jehoshua, S. 86.
  • 17. Chronik der Stadt Stuttgart 1933-1945. Veröffentlichungen des Archivs der Stadt Stuttgart. Band 30. Stuttgart 1982, S. 628.
  • 18. Julius Marx in: Walter Strauss (Hrsg.): Lebenszeichen. Juden aus Württemberg nach 1933. Gerlingen 1982, S. 188. Vgl. auch Rolf Zielfleisch: Stuttgarter Bunkerwelten, Stuttgart 2006. S. 39.
  • 19. Zitiert nach Reinhard Döhl: Von Cannstatt nach Shavej Zion. Der Dichter Leopold Marx. http://www.uni-stuttgart.de/ndl1/marx.htm. Dort auch das vollständige Gedicht.
  • 20. Manuel Werner: Cannstatt – Neuffen – New York. Das Schicksal einer jüdischen Familie in Württemberg. Mit den Lebenserinnerungen von Walter Marx. Nürtingen/Frickenhausen 2005. S. 53. Vgl. auch Leopold Marx, Mein Sohn Jehoshua, S. 88.
  • 21. Polizeiverordnung über die Kennzeichnung der Juden vom 1. September 1941 (Reichsgesetzblatt I 1941, S. 547).
  • 22. Zitiert nach Chronik der Stadt Stuttgart. 1933-1945, S. 749 f. Vgl. hierzu ausführlich: Klegraf, Jupp: Der Stuttgarter “Judenladen”. Dokumentation eines fast vergessenen Stücks der Stuttgarter Stadtgeschichte. Geschichtswerkstatt Stuttgart Nord e.V. 2007.
  • 23. Martin Rothschild

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