Neben Einträgen in die Geburtsregister liefert das Stuttgarter Adressbuch von 1933 den frühesten Hinweis auf die Existenz des Kaufmanns Jakob Cohen, der 63 Jahre alt war, als er 1932 mit seiner Frau Lucie nach Cannstatt zog. Die Cohens müssen dort schon1932 polizeilich gemeldet gewesen sein, weil die Adressbücher jeweils im Herbst des Vorjahres redaktionell abgeschlossen wurden.1
Mehr als ein Vierteljahrhundert später, schrieb Ida Goldstein im Zuge ihrer Bemühungen um Wiedergutmachung aus Haifa: „Mein Bruder Jakob Cohen hatte seinen letzten Wohnsitz in Cannstatt, wo er mit einem Sozius, der Schwab oder Schwabe hieß, ein Geschäft mit Angestellten hatte. Er ist mit seiner Frau Lucie, geb. Cahn von Cannstatt zunächst nach Luxemburg gezogen. Von dort sind sie nach Theresienstadt deportiert worden. Mein Bruder starb dort, meine Schwägerin kam nach Auschwitz.“ Mehr scheint die schon über Siebzigjährige über die späten Jahre ihres Bruders und seiner Frau nicht gewusst zu haben. Mehr hätte sie als letztes der fünf Geschwister Cohen2 sicherlich über das vorangegangene Leben der beiden erzählen können, aber wen hat das zu Wirtschaftswunderzeiten interessiert, als niemand von NS-Verbrechen etwas wissen oder sich damit auseinander setzen wollte?
Wer sich heute auf Spurensuche nach Jakob und Ida Cohen begibt, ist auf Verzeichnisse3, die sich in Details widersprechen, auf Auskünfte und auf wenig ergiebige Akten angewiesen und findet beispielsweise keine Antwort auf die Frage, was die Cohens bewogen hat, sich 1932 in Cannstatt niederzulassen. Sie wohnten dort in der Bahnhofstraße 14, wo auch die Firma „Schwab & Cohen“ ihren Sitz hatte. Der Mitgesellschafter Salomon Schwab ist im August 1937 aus der Firma ausgeschieden und nach Berlin verzogen. Man darf wohl annehmen, dass Grund hierfür der durch Boykotte und Schikanen rapide zurückgehende Umsatz war. Seitdem führte Jakob Cohen das Manufakturwaren-Geschäft alleine, musste es jedoch 1938 verkaufen, was einer Enteignung gleichkam. Es hat dem „Ariseur“ kein Glück gebracht, denn die Geschäfte gingen weiterhin schlecht, und 1944 ging die Firma samt Warenlager und Einrichtung im Bombenhagel eines Luftangriffs zugrunde. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der vormals für das Unternehmen tätige Wirtschaftsberater für die guten Jahre 8 bis 9% Reingewinn und für den Mitgesellschafter Schwab ein jährliches Einkommen von 8500 Reichsmark angegeben. Da Jakob Cohen zwei Drittel der Firmenanteile besaß, kann für ihn mit einiger Vorsicht von bis zu 15 000 Reichsmark Jahreseinkommen ausgegangen werden.
Nicht genug damit, dass Jakob Cohen 1938 seiner Firma verlustig ging, das Ehepaar musste auch die Schrecken der Reichspogromnacht erleben. Die anschließende Verschleppung nach Dachau oder Welzheim, die viele Stuttgarter Juden erstmals mit dem Horror der Konzentrationslager bekannt machte, ist Jakob Cohen höchstwahrscheinlich deshalb erspart geblieben, weil seine Bemühungen um Auswanderung schon angelaufen waren. Auf das weitere Schicksal des Paares gibt dann die Stuttgarter Judenliste vom Januar 1939 wieder einen Hinweis. Sie nennt als neue Wohnadresse Klopstockstraße 57, ein Haus in jüdischem Besitz. Die Cohens waren folglich zu Opfern der Stuttgarter Wohnungspolitik geworden, die darauf abzielte, ihre jüdischen Bürger aus „arischen“ Wohnungen zu verdrängen und in überbelegten jüdischen Häusern zusammenzupferchen.
Der NS-Staat hat zu dieser Zeit zwar jüdische Emigration noch gefördert, dennoch wurde Auswanderungswilligen jede nur denkbare Schwierigkeit in den Weg gestellt, und vor allem wurde auf ihr Vermögen zugegriffen. Als Ziel bot sich Cohens Luxemburg an, wo Jakobs jüngster Bruder Louis in der Hauptstadt ein Warenhaus betrieb. Seit Oktober 1938 hatte er sich um Einreisegenehmigung für Jakob und Lucie Cohen bemüht, jedoch waren „die administrativen Prozeduren […] beschwerlich, denn die zuständigen Polizeibehörden überprüften penibel jeden einzelnen Fall“4. Louis Cohen wies auf die für Juden unhaltbar gewordenen Verhältnisse in Deutschland hin, auch auf das hohe Alter seiner Verwandten. Er versicherte insbesondere, dass er finanziell für sie aufkommen werde. Weder dies noch die anderen Argumente vermochten das Misstrauen des mit der Überprüfung beauftragten Sicherheitsbeamten zu überwinden. Die Einreise wurde im Hinblick auf den übermäßigen Andrang emigrierender Juden zunächst abgelehnt. Erst am 18. November 1938 fruchteten Louis Cohens Bemühungen, sodass sein Bruder und dessen Frau mit je zehn Reichsmark Vermögen schließlich am 1. Juni 1939 über Trier-Wasserbillig nach Luxemburg übersiedeln konnten. Nach der Judenvermögensabgabe, die sie nach der Reichspogronacht hatten entrichten müssen, wurde ihnen zuvor noch die Reichsfluchtsteuer auferlegt und Lucie ihres Schmuckes beraubt5
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Im Großherzogtum Luxemburg wurden jüdische Flüchtlinge „nicht unbedingt mit offenen Armen empfangen. Es war nicht nur die Angst vor einer ‚Überfremdung‘ oder einer Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch die Furcht, dass sich nunmehr geflohene jüdische Händler und Geschäftsleute in Luxemburg niederlassen und den Einheimischen den Wohlstand streitig machen würden. Antisemitische Vorurteile […] und ein katholisch geprägter Antijudaismus waren überdies in Teilen der Gesellschaft fest verwurzelt, was in Luxemburg lebende ausländische Juden stärker zu spüren bekamen als alteingesessene Familien.“ Auch der bürokratischen Hürden war mit vollzogener Einreise noch kein Ende. Der Zoll verweigerte zunächst die Freigabe ihrer Möbel, für die polizeiliche Anmeldung bedurfte es einer amtsärztlichen Bescheinigung, und die Sicherheitspolizei wollte sich vergewissern, dass alles seine Ordnung hatte. „Der gleiche Polizist, der sich im Jahre davor gegen den Zuzug […] ausgesprochen hatte, kam in die Wohnung, wo er misstrauisch überprüfte, ob die gemachten Angaben stimmten und die Auflagen auch eingehalten würden.“ Nachdem diese Prüfung überstanden war, konnten die Cohens luxemburgische Ausweispapiere beantragen, was eine Garantie für einen sicheren Aufenthalt im Großherzogtum zu sein schien.
Es schien so, denn das Ehepaar durfte sich kaum ein Jahr in Sicherheit fühlen. Als das neutrale Luxemburg im Mai 1940 von deutschen Truppen überfallen wurde, waren sie unversehens wieder in den Machtbereich des NS-Staates gelangt, den der fanatische Nationalsozialist und Antisemit Gustav Simon als Gauleiter repräsentierte. Das Großherzogtum „judenfrei“ zu machen, war sein erklärtes Ziel. Einem der Zwangsaltersheime für die württembergischen Juden waren die Cohens durch ihre Auswanderung entgangen, jetzt holte sie ein ähnliches Schicksal ein. Dort wurden die Juden nämlich ab Sommer 1941 im Kloster Fünfbrunnen, bei Ulflingen im Norden des Landes gelegen, zusammengezogen. Zu den ersten, die ihre Wohnung aufgeben und sich hier mit einem winzigen Zimmer begnügen mussten, gehörten Jakob und Lucie Cohen. Da sie mittellos waren, griff die deutsche Verwaltung zunächst auf das Vermögen des inzwischen ausgewanderten Bruders Louis zurück und nahm, als dort nichts mehr zu holen war, die jüdische Gemeinde in Regress.
Überbelegung und bedrängende Raumnot, Mangelernährung, ungenügende Heizung, Krankheiten und unzureichende medizinische Versorgung bestimmten die Lebensumstände der bis zu 150 in Fünfbrunnen vegetierenden Menschen. Mit Schikanen wie einem Hausarrest und dem Verbot, Bücher oder Zeitungen zu lesen, engte die Gestapo den Lebenskreis der Internierten zusätzlich ein. Dazu kam die Angst, mit einem der Judentransporte, die Luxemburg seit 1941 verließen, einem ungewissen Schicksal zugeführt zu werden. Die Angst war begründet. Am 29. Juli 1942 wurden Jakob und Lucie Cohen mit Transport X/1 zusammen mit anderen Luxemburger Juden von Dortmund aus nach Theresienstadt verschleppt,6 wo sie tags darauf ankamen. Ihrer zurückgebliebenen Möbel hat sich umgehend die deutsche Verwaltung bemächtigt.
Im Sommer 1942 befanden sich über 43 000 Häftlinge in der ehemaligen Festung. Dieser Sommer zählt „zu den grausamsten Kapiteln der Theresienstädter Geschichte […]. Mehr als 6000 Menschen mussten auf Dachböden vegetieren. Man wohnte auch in dunklen, ungenügend gelüfteten Kasematten. Auf einen Theresienstädter Häftling entfielen im August 1942 einschließlich Dachböden und Kasematten nur 1,6 Quadtratmeter Fläche. Zum Schlafen, zum Leben, zum Sterben. Im ganzen Lager brach die Wasser- und Stromversorgung zusammen, es entstand ein hoffnungsloser Mangel an Küchenkapazitäten, es war unmöglich, das Austragen von Essen zu bewältigen, viele Häftlinge bekamen ihr karges Essen kalt. Grauenhaft waren die sanitären und hygienischen Bedingungen. Vor Aborten und Latrinen standen Tag und Nacht lange Schlangen. Es verbreiteten sich Epidemien und Darmkrankheiten. Es fehlten Menschen und Mittel für die grundlegendste gesundheitliche Fürsorge.
Seine dezimierende Funktion hatte Theresienstadt damals mit absoluter Vollkommenheit erfüllt. In drei Monaten – August, September und Oktober 1942 - starben 10 364 Häftlinge.“7 Dass der 72-jährige Jakob Cohen dieses Elend nicht lange überlebte, darf umso weniger verwundern, als der Winter im Theresienstadt ungemein streng war. Er starb am 27. Dezember, fast auf den Tag genau fünf Monate nach seiner Einlieferung. Mehr Widerstandskraft brachte offenbar seine Frau auf. Wenn aber Theresienstadt seinen „Auftrag erfüllen und wenn die drohende Gefahr der Übertragung von Epidemien in die weitere Umgebung abgewendet werden sollte, genügte die “natürliche‘ Sterblichkeit der Häftlinge nicht.“ Deshalb wurden möglichst viele von ihnen „in die östlichen Vernichtungslager transportiert und dort sogleich bei der Ankunft ermordet“.8 Gegen die katastrophale Übervölkerung des Lagers musste auch vorgegangen werden, als im Mai 1943 gegenüber dem Internationalen Roten Kreuz mit einer Potemkinschen Inszenierung der Beweis geführt werden sollte, dass die Juden in Theresienstadt durchaus gut untergebracht seien. „Im Rahmen dieser ‚Verschönerung’ entledigte sich Theresienstadt weiterer 7503 Häftlinge durch ihren Abschub nach Auschwitz.“9 Dort traf am 16. Mai 1944 zusammen mit 2503 Juden aus Theresienstadt auch Lucie Cohen ein und wurde ermordet.10
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: ANLux, Anke Redies
Quellen und Literatur:
Staatsarchiv Ludwigsburg EL 350 I Bü 39189 und Bü4307
Czech, Danuta: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939 – 1945. Hamburg 1989
Gottwald, Alfred und Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941 – 1945. Eine kommentierte Chronologie. Wiesbaden 2005, S. 305
International Tracing Service: Auskunft vom 17.06.2015
Sauer, Paul: Die Schicksale der jüdischen Bürger während der Nationalsozialistischen Verfolgungszeit 1933 – 1945. Stuttgart 1969
Schoentgen, Marc: Das „Jüdische Altersheim“ in Fünfbrunnen. In: Wolfgang Benz und Barbara Distel: Terror im Westen. Nationalsozialistische Lager in den Niederlanden, Belgien und Luxemburg 1940 – 1945. Berlin 2004
Schoentgen, Marc: Von Bad Cannstatt nach Luxemburg. Ein deutsches Flüchtlingsschicksal (1939 – 1944). In: Tageblatt LËTZEBURG 30./31. Januar 2016, S. 13 f.
Theresienstädter Gedenkbuch. Die Opfer der Judentransporte aus Deutschland nach Theresienstadt 1942 – 1945. Prag 2000
http://yvng.yadvashem.org/index.html?language=de, Abfrage 04.03.2016
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