Cannstatter Stolperstein-Initiative

Sally und Julchen Gutmann: In Riga verschollen

Julchen Gutmann, ca 1932.Sally GutmannEs war eisig kalt, als am 4. Dezember 1941 rund 1000 württembergische Juden mit Transport Da 22 den Bahnhof Riga-Skirotava erreichten. Daheim waren sie vor gut zwei Monaten durch den Judenstern stigmatisiert worden. Nun hatte man sie in der Hoffnung gewiegt, sie würden umgesiedelt. Spätestens jetzt, als sie mit Schlägen und Flüchen aus dem Zug gejagt und zum heruntergekommenen Bauernhof Jungfernhof getrieben wurden, muss der letzte Rest ihrer Hoffnungen erloschen sein. Zu den Unglücklichen gehörten auch Julchen und Sally Gutmann1 aus Bad Cannstatt, 52 und 62 Jahre alt. Am 27. November waren sie alle in einem improvisierten Lager auf dem [Stuttgarter] Killesberg zusammengezogen worden. Dort wurden sie durchsucht, enteignet und am 1. Dezember um drei Uhr morgens „mit Lastwagen zum Nordbahnhof gefahren und in total überfüllte Personenzüge verladen“, berichtet Hannelore Marx über den Transport und fährt fort: „In jedem Waggon waren Türen und Fenster verschlossen, es gab keine Möglichkeit zu entfliehen. Auf der Bank, die mir und meinen Eltern zugewiesen worden war, befand sich eine Frau, die drei Mal so dick und drei Mal so alt war wie ich, und es gab für mich absolut keinen Platz zum Sitzen, außer auf dem Fußboden. Ich saß dort während der gesamten Reise, nur hin und wieder konnte ich mich aufrichten und auf meinen Füßen stehen. Meine Füße und meine Beine waren geschwollen, und ich konnte mich kaum bewegen. Die Toiletten im Zug waren verstopft und zugefroren, und wir hatten kein Wasser zum Spülen.

Da wir die Fenster nicht öffnen und frische Luft hereinlassen konnten, war der Geruch natürlich fürchterlich und wurde unvermeidbar zum Gestank. Während der Nacht hielt der Zug an einigen wenigen Bahnhöfen. Pro Waggon wurde ein Mann ausgewählt, der die Erlaubnis erhielt, Wasser für seine Leute zu holen. Das Wasser war nur zum Trinken. Es gab keine Möglichkeit, sich während der Fahrt, die drei Tage und drei Nächte dauerte, zu waschen.“2

Hannelore Marx, der wir die Schilderung verdanken, gehört zu den 43 Überlebenden des Transports. Sally und Julchen Gutmann konnten hingegen nicht berichten, wie es ihnen ergangen ist. Niemand kann sagen, ob sie in den völlig unzureichenden Unterkünften erfroren oder verhungert sind, ob sie willkürlich ermordet oder der Massenhinrichtung im Wald von Bikernieki zum Opfer gefallen sind. Sicher ist nur, dass sie mangels jedes Lebenszeichens vom Amtsgericht Stuttgart auf den 31. Dezember 1942 für tot erklärt wurden. Das Haus Daimlerstraße 58, in dem das kinderlose Ehepaar eine 5-Zimmer-Wohnung bewohnt hatte, wurde bei einem Luftangriff zerstört. Mit dem Haus scheint die Erinnerung an das Ehepaar in Cannstatt, wo sie sie seit 1909 gelebt hatten, untergegangen zu sein.

Nur Rosa S. hat die Erinnerung an ihre beiden Brüder Sally und den fünf Jahre jüngeren Karl bis ins hohe Alter bewahrt. Als sie sich von Palästina aus in den Fünfzigerjahren um Restitution und Wiedergutmachung bemühte, konnte sie allerdings wenig mehr persönliche Erinnerungen beibringen als eine eidesstattliche Erklärung ihres Mannes Dr. S. enthält. Aus dieser recht dürren Erklärung und während des Verfahrens angestellten Ermittlungen lassen sich wenige Details rekonstruieren. Sally Gutmann hat im Ersten Weltkrieg als Unteroffizier und davor als einjährig Freiwilliger gedient. Sein En-gros-Geschäft für Schneiderartikel war 1906 schon im Handelsregister eingetragen, was für eine gewisse Größe spricht. „Für den inneren Geschäftsbetrieb hatte er, so lange er noch nicht verheiratet war, eine Angestellte. Später hat dies seine Ehefrau erledigt.“ Das gemeinsame Einkommen habe es dem Ehepaar ermöglicht, ständig ein Dienstmädchen zu beschäftigen. Er wisse auch, berichtet Dr. S. weiter, „dass mein Onkel und seine Frau jedes Jahr Sommerurlaubsreisen gemacht haben, teilweise auch ins Ausland. Für diese beiden Aussagen haben sich zufällig Belege erhalten: Eine gewissen Dora M.3 hat 1927 gegen Sally Gutmann geklagt, der sie offenbar fristlos entlassen hat, „weil die Bekanntschaft der Klägerin mit einem fremden Schlüssel unbefugt in das Haus Karlstr. 58 eingedrungen ist“. Julchen Gutmann, die ihren Mann vor Gericht vertrat, stimmte einem Vergleich zu, wonach die Klägerin noch 10,- RM Lohn und ein Zeugnis erhielt und die Schlüsselangelegenheit als erledigt galt. Für Reisen der Gutmanns sprechen Passanträge4 für Julchen aus dem Jahre 1926 und für Saly von 1932. Dem Umstand, dass abgelaufene Pässe zurückgegeben werden mussten, verdanken wir überdies die einzigen überkommenen Bilder von Julchen und Saly Gutmann.

„Soweit ich mich erinnere“, schreibt Dr. S., „war sein Geschäft gut eingeführt. Infolge der Mithilfe seiner Ehefrau hat er mit geringen Unkosten gearbeitet. Die Einkünfte meines Onkels führten mit der Zeit dazu, dass er ein beträchtliches Vermögen sich erspart hatte, woraus später ja auch Judenvermögensabgabe erhoben worden ist.“ Diese Aussagen lassen sich besonders gut untermauern. Im Zuge der Wiedergutmachung wurde aus Bankunterlagen rekonstruiert, dass Sally Gutmann in fünf Raten insgesamt 14.526,25 Reichsmark „Sühne“ abgepresst wurde. Darüber hinaus hat die Städtische Girokasse am 13. Februar, am 9. April und am 8. Oktober Wertpapiere im Nennwert von insgesamt 52.900 RM im Auftrag des Oberfinanzpräsidenten Württemberg an die Preußische Staatsbank abgeführt. Sein Geschäft musste Sally Gutmann Ende 1936 aufgeben. Es hatte in den Jahren bis 1934 nach Auskunft des Steueramts der Stadt Stuttgart einen Reinertrag von jährlich 5.400,- RM erwirtschaftet. Sollte vom stattlichen Vermögen der Gutmanns zum Zeitpunkt ihrer erzwungenen Abreise noch etwas übrig gewesen sein, sorgte die „11. Verordnung zum Reichsbürgergesetz“ vom 25. November dafür, dass es nach der Deportation eingezogen wurde. Unbekannt ist, wer sich die Wohnungseinrichtung der Gutmanns angeeignet hat, doch darf man sicher sein, dass der NS-Staat Kapital daraus geschlagen hat, zumal die Wohnung in der Daimlerstraße spätestens 1942 von „Ariern“ bewohnt wurde.
Daimlerstraße 58, Stolpersteine verlegt am 12. April 2011.

© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: Staatsarchiv Ludwigsburg und Anke Redies

  • 1. StAL EL 350 I Bü 4521; K 50 Bü 1374
  • 2. Hannelore Marx: Stuttgart, Riga, New York. Mein jüdischer Lebensweg. Horb-Rexingen 2005. Vgl. auch Andrej Angrick und Peter Klein: Die „Endlösung“ in Riga. Ausbeutung und Vernichtung 1941-1944. Alfred Gottwaldt, Diana Schulle: Die „Judendeportationen“ aus dem Deutschen Reich 1941-1946.Wiesbaden 2005, S. 124.
  • 3. Name geändert.
  • 4. StAL F 215 Bü 470

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