Cannstatter Stolperstein-Initiative

Johannes Reinhardt, vergebliche Flucht nach Warschau

Vom Schicksal des Babo und seiner Frau Trulla erzählte Knechto. Das war nach dem Krieg – als ihn die Polizei nach dem Verbleib der Karlsruher Geschwister Kling fragte. Die Karlsruher Polizei wusste aus ihren Akten, dass die kleine Marta Kling zur „Zigeunerfamilie Johannes Reinhardt, wohnh[aft] in Bad Cannstatt, Städt[ische] Baustelle Hallschlag“ gekommen war. Dass aber “Johannes Reinhardt, genannt Babo, mit seiner Frau […]Trulla gegen Kriegsmitte geflüchtet und nach Polen gegangen“ sei „um der Einweisung ins KZ zu entgehen“, das erfuhren die Polizisten von Herrn Georg Link (1892-1968), einem Stuttgarter Sinto, der bei seinen Leuten hochgeachtet und unter dem Sintinamen Knechto bekannt ist. Dieser berichtete sodann: „Babo soll in Polen ums Leben gekommen sein.“ Das Stadtadressbuch führt Johannes Reinhardt seit 1941 als Bauarbeiter in einer Wohnbaracke neben dem bereits fertiggestellten Haus Düsseldorfer Straße 55-57; inmitten der städtischen Großbaustelle. Die Flucht von Babo und Trulla aus Stuttgart begann im Juni 1942. Das zeigt eine Analyse der Fahndungsverzeichnisse. Ihr Weg führte sie – warum auch immer – nach Warschau, in die von den Deutschen besetzte Hauptstadt Polens, mit damals (1935) 1,3 Millionen Einwohnern. Nur Weniges berichtete Hildegard Reinhardt – Trulla – später von der Zeit in Warschau, wo sie in einem von vielen Gettos untergetaucht waren, dessen Ausgänge von Wachposten besetzt gewesen sind, von wo sie täglich, unter SS-Bewachung, zur Arbeitsstätte gebracht und wieder zurückgeführt wurden.

Kaum vorstellbar, jeden Tag mit der Angst zu leben, entdeckt zu werden. Und dann geschah es eben doch: Johannes Reinhardt wurde vom Arbeitsplatz weg verhaftet – und Hildegard gelang es, aus Warschau nach Radom zu flüchten. Unter dem Wenigen, was sie bei sich trug, wog sicherlich am schwersten die Nachricht, ihr Mann sei „auf dem Marsch nach dem KZ Lublin […] erschossen worden“. Das als Zielpunkt vermutete KZ lag im Lubliner Stadtteil Majdan Tatarski und ist heute unter der Bezeichnung Majdanek bekannt.

Die Witwe erhielt keine Entschädigung nach dem Bundesentschädigungsgesetz, da nach dem Ermittlungsbericht des Landeskriminalamts (1958) der am 6.10.1899 in Sickingen geborene Johannes Reinhardt „unter Überwachung der Kriminalpolizei stand und ihm deshalb die Stadt Stuttgart als Zwangsaufenthaltsort zugewiesen war. Wegen Verlassens dieses Zwangsaufenthaltsortes wurde der Erblasser am 1.9.1942 zur Festnahme und Anordnung der polizeilichen Vorbeugungshaft ausgeschrieben. Aufgrund dieses Ausschreibens wurde er am 9.11.1942 in Ostrow festgenommen und bei einem Fluchtversuch erschossen. Der Antrag auf Entschädigung […] war daher zurückzuweisen, weil die Maßnahme der Polizei […] aus Sicherheitsgründen und nicht aus Gründen der Rasse durchgeführt wurden.“

Hildegard Reinhardt starb als Witwe. 1987 wurde sie bei der Tochter Ursula (1925-1936), im Familiengrab in Stuttgart-Heslach beigesetzt. Wo wohl der Leichnam von Johannes bestattet wurde?
In memoriam Johannes Reinhardt, der selbst Musiker war, spielten Zigeli Winter und seine Band bei der Stolperstein-verlegung.Düsseldorfer Straße 59. Stolperstein verlegt am 14. März 2008.

© Text: Stefan Janker, Rottenburg
© Bilder: Anke Redies

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