Cannstatter Stolperstein-Initiative

Ida Carlebach: Flucht in den Tod

Wie ihr Vater Veit Kahn, der in Cannstatt hohes Ansehen genoss, war Ida Carlebach tief im Judentum verwurzelt und hat streng gesetzestreu gelebt. Als junge Witwe verlor sie ihr einziges Kind und hat fortan im Haus ihrer Kindheit zurückgezogen gelebt. Die Judenhetze der Nationalsozialisten hat ihre Wirkung auf Frau Carlebach nicht verfehlt. Der Brand der Cannstatter Synagoge, dessen Augenzeugin sie wurde, muss den Ausschlag gegeben haben. Sie setzte ihrem Leben ein Ende.

„Heute bestatteten wir den angesehensten und ehrwürdigsten Mann unserer Gemeinde zur letzten Ruhe, Veit Kahn. Er hat in der hiesigen Stadt als einziger orthodoxer Jude streng gesetzestreu gelebt und im Verein mit seiner edlen Gattin sein Haus in diesem Sinne geführt und seine Kinder, Söhne und Töchter, so erzogen, dass sie in ihren Kreisen Muster und Säulen des altüberlieferten Judentums sind.“1
Ida Carlebach1919Eines dieser Kinder war Ida, über die aus amtlichen Unterlagen Folgendes zu entnehmen ist: Sie hat am 26. Juli 1882 als fünftes Kind der Kahns das Licht der Welt erblickt. Die Familie wohnte zunächst im Haus Moltkestraße 3 (heute Dürrheimer Straße), bis der Vater um 1905 das benachbarte Haus Nr. 5 samt zugehörigem Garten erwarb. Hier wuchs Ida mit ihren Geschwistern auf. Mit 24 Jahren hat sie sich mit Emil Carlebach verheiratet, der schon nach wenigen Monaten starb. Hat deshalb ihr im März 1907 geborenes Kind nur zwei Tage überlebt?2 Zum Zweck der Erholung ließ sie sich am 10. November 1919 vom Stadtschultheißenamt ein Zeugnis zur Ausstellung eines Reisepasses ausstellen. Über Friedrichhafen oder Gottmadingen sollte die Fahrt gehen, aber schon am 19. November wird das Dokument mit dem Hinweis „Reise wird nicht angetreten“ zu den Akten genommen. Vielleicht haben die Unruhen der Novemberrevolution sie bewogen, vorsichtshalber daheim zu bleiben.

Im Haus ihrer Kindheit, in das sie als Witwe zurückgekehrt ist, hat Ida Carlebach am 27. November 1938 den Gashahn aufgedreht und ihrem Leben ein Ende gesetzt. Für die damals elfjährige Margarete Uhl, heute Frau Carle, ging mit dieser Tragödie ein Lebensabschnitt zu Ende. Seit 1931 hatte Ihre Familie in harmonischer Hausgemeinschaft mit Ida Carlebach gelebt. Aus dem Haus, das sich äußerlich von den benachbarten kaum unterschied, war nach 1933 ein „Judenhaus“ geworden, unter anderem daran erkennbar, dass nicht geflaggt wurde, wenn Jubeltage wie Hitlers Geburtstag angeordnet waren. Dass Frau Carlebach Jüdin war, hat Margarete nur daran gemerkt, dass sie am Schabbat zur Synagoge ging und gelegentlich darum bat, den Türöffner zu bedienen, wenn Besucher klingelten. Ansonsten hat sie die zurückhaltende alte Dame als besonders vornehm in Erinnerung. Lebhaft sei es nur zugegangen, wenn Herbert und Julius, die Söhne von Frau Carlebachs Bruder Siegfried Kahn, ins Haus kamen.

In Alltagsdingen sei die allein lebende Ida Carlebach ganz und gar von ihrem Dienstmädchen Hannelore abhängig gewesen. „Kaum einen Kaffe hat sie sich kochen können.“ Weil sie außerdem ängstlich war, musste Hannelore bei ihr in der Wohnung schlafen, obwohl sie im dritten Stock eine eigene Kammer hatte. Mit dieser Kammer verbindet Frau Carle besondere Erinnerungen, weil es dort immer kleine Überraschungen gab, wenn sie und ihre Schwester dort Besuche abstatteten. Vor Weihnachten mussten sie gar ihre Puppen bei Hannelore abliefern. Am Fest wurden sie dann zu Frau Carlebach gebeten, wo die Puppen von Kopf bis Fuß neu ausstaffiert auf dem Sofa saßen. „Kaum haben wir uns getraut, sie wieder an uns zu nehmen, weil alles so nobel eingerichtet war.“ Margarete Carle hat die vielteilige Puppengarderobe über die Jahrzehnte aufbewahrt und ergötzt sich bis heute an den kleinen Mänteln, Hemden und Höschen, die detailgetreu genäht, gestrickt, paspeliert und umhäkelt sind. Aber nicht nur für die Puppen gab es Kleider, sondern aus der Garderobe von Frau Carlebachs Nichte Minne Kahn auch für Margarete und ihre Schwester. „Aus Seide waren die und so wunderbar, dass wir sie nur sonntags tragen durften!“ Unvergessen sind auch Torten „wie vom Konditor“, die Hannelore zu Kindergeburtstagen oder zur Kommunion für die beiden Schwestern backen musste. Nicht zuletzt gehörte zum Glück der Mädchen auch der große zum Haus gehörige Garten, wo es Wasser zum Planschen und ein Gartenhäusle gab.

Das „Ende ihrer Kindheit“ begann für Margarete Carle im November 1938. Mit dem Ruf „Kinder es brennt“ kam ihr Vater ins Kinderzimmer, von wo der Synagogenbrand in der König-Karl-Straße gut zu beobachten war. Weil es die Synagoge war, holte der Vater Frau Carlebach aus dem ersten Stock hinzu. „Wie versteinert stand sie da“, erinnert sich Frau Carle tiefbewegt. Die Funken seien fast bis ans Haus geflogen. Als ihr drei Wochen später eine Schulkameradin erzählte, Frau Carlebach habe sich umgebracht, wollte sie das zunächst nicht glauben. Sie erfuhr dann aber, dass ihr Vater am Vorabend spät vom Dienst gekommen war, Gasgeruch wahrgenommen, sogleich Vorkehrungen wegen der Explosionsgefahr getroffen und die Polizei gerufen hatte. Man kann ermessen, was der Synagogenbrand für die aus streng orthodoxem Hause stammende Ida Carlebach bedeutet hat. Ihr Lebensmut dürfte auch deshalb erloschen sein, weil ihr hoch angesehener Bruder Siegfried schon 1932 gestorben war und die Neffen Herbert und Julius Anfang 1938 ausgewandert waren.

Die treue Hannelore war für zwei Tage zu ihrer sterbenskranken Mutter nach Mergentheim geeilt. Als sie erfuhr, was während ihrer kurzen Abwesenheit geschehen war, warf sie sich vor, ihre Herrin in Stich gelassen zu haben. Darüber hinaus gab es kaum Aufhebens um Ida Carlebachs Tod. Ob jemand zur Beerdigung mit auf den jüdischen Friedhof gegangen ist? Frau Carle verneint die Frage, „man ist ja so überwacht worden“, sagt sie und keiner wollte sich dem Vorwurf aussetzen „sich mit Juden abzugeben“. Frau Carlebachs Suizid war das gewollte Ergebnis einer zielgerichteten NS-Politik, für die eine zunehmende Zahl von Selbstmorden3 das erwünschte Anzeichen „der Weiterschreitung der Verproletarisierung der Juden“4 war. Ida Carlebach war kaum tot, als „von jetzt auf nachher“, wie sich Frau Carle erinnert, die Familie von Kriminalsekretär NN ihre Wohnung bezog. Bereits im März 1939 ging das Haus in seinen Besitz über. Damit war man dem Ziel städtischer Wohnungspolitik, Stuttgarter jüdischen Hausbesitz schnellstmöglich zu „arisieren“, einen Schritt näher gekommen. Nach allem, was man über die „Arisierung“ von jüdischem Hausbesitz weiß, ist es sicher, dass den Kahn-Erben der Mieter und spätere Käufer NN ebenso diktiert wurde wie ein Preis weit unter Marktwert. Kriminalsekretär NN hatte Glück, weil die Erbengemeinschaft Kahn nach dem Krieg keinen Anspruch auf Rückerstattung angemeldet hat. So schrieb er einfach „nein“, als er 1946 bei seiner Entnazifizierung gefragt wurde „Hatten Sie irgendwann Vorteile durch ihre Mitgliedschaft bei einer Naziorganisation?“5

Ende der dreißiger Jahre herrschte in Stuttgart Wohnungsnot. Hat man deshalb Frau Carle schon lange vor ihrem tödlichen Entschluss bedrängt, ihr Haus zu räumen? Dass Familie NN „von jetzt auf nachher“ einziehen konnte, legt die Vermutung nahe. Auch wüsste man gerne, was aus den schweren Möbeln geworden ist. Antworten hierauf wird es vermutlich so wenig geben wie weitere Spuren von Ida Carlebachs Leben.
Dürrheimer Straße 5, Stolperstein verlegt am 23. Mai 2015
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: Staatsarchiv Ludwigsburg und Anke Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative

  • 1. Der Israelit, 12. Juli 1923
  • 2. Vgl. Friedhöfe in Stuttgart, Band 4, Joachim Hahn: Steigfriedhof Bad Cannstatt, Israelitischer Teil, Stuttgart 1995, S. 54 f.
  • 3. Vgl. Die Schicksale der Cannstatter Juden Fritz Rosenfelder und Dr. med. Ernst Baer unter www.stolpersteine-cannstatt.de.
  • 4. StAL K 110 Bü 45 Lagebericht des SD Unterabschnitts Württemberg-Hohenzollern über die soziale Lage der Judenschaft Anfang 1939. Zitiert nach Roland Müller: Judenfeindschaft und Wohnungsnot. In: Der Jüdische Frisör. Tübingen 1992.
  • 5. Punkt 3 des Meldebogens auf Grund des Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus vom 5.3.1946

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