Cannstatter Stolperstein-Initiative

Dr. Ernst Baer - Flucht in den Tod

Ernst Baer war Christ, aber Sohn jüdischer Eltern. Am Ersten Weltkrieg nahm er freiwillig teil und brachte es zum Sanitätsvizefeldwebel. 1922 bestand er das medizinische Staatsexamen, wählte die Dermatologie als Fachgebiet und begründete eine sehr erfolgreiche Privat- und Kassenpraxis. Den Boykotten, Diffamierungen und Drohungen der braunen Machthaber hat der angesehene Arzt nicht lange widerstanden: 1937 nahm er sich das Leben

Der jüdische Arzt
besaß im Deutschen Reich der Vor-Nazizeit ein solches Ansehen,
dass man geradezu von einer Bevorzugung durch weite Kreise
der nichtjüdischen Bevölkerung sprechen kann.1

Als einziges Kind von Dr. med. Elkan Baer und seiner Frau Fanny, geb. Kiefe, kam Ernst Baer am 7. Juni 1895 im damals badischen Eppingen (heute Lkr. Heilbronn) zur Welt.2 Die Familie übersiedelte 1903 in die Oberamtsstadt Cannstatt, wo sich der Vater als Praktischer Arzt, Chirurg und Geburtshelfer in der Bahnhofstraße niederließ und sich der israelitischen Gemeinde anschloss. Wenn das Familienregister für seinen Sohn „ist getauft“ vermerkt, legt das den Schluss nahe, dass Ernst Baer sich im Erwachsenenalter mit dem Glaubensübertritt nach dem Vorbild anderer Juden in die Gesellschaft seiner Umgebung integrieren wollte. Vieles deutet drauf hin, dass ihm die angestrebte Emanzipation gelungen ist - bis ihn die NS-Politik in einen vernichtenden Strudel von Entrechtung und Diffamierung riss.

In Cannstatt besuchte Ernst Baer das Gymnasium bis zum Abschluss der Untersekunda, das Abitur bestand er 1914 am Villinger Realgymnasium. Im selben Jahr immatrikulierte er sich an der Universität Heidelberg, trat aber zu Beginn des Ersten Weltkrieges als Freiwilliger in das württembergische Dragonerregiment „König Nr. 26“ ein. Er wurde 1915 zum Unteroffizier befördert, 1916 zum Sanitätsvizefeldwebel. Am 18. Oktober 1917 immatrikulierte Ernst Baer sich an der Universität in Tübingen, wo er gleichzeitig Garnisonsdienst leistete. Im Herbst 1918 ins Feld zurückversetzt, bittet er die Universität, weiterhin als Kriegsstudent geführt zu werden. Nach dem Krieg setzt er sein Studium zunächst in Tübingen, dann in Heidelberg fort, wo er das Physikum besteht. Es folgt ein erstes klinisches Semester, bevor er nach München wechselt und dort im Juni 1922 das medizinische Staatsexamen besteht. Aufgrund eines Ohrenleidens, das er sich im Krieg zugezogen hatte, entscheidet sich Baer für die Fachausbildung Haut- und Geschlechtskrankheiten, die er an der Münchner Dermatologischen Universitäts-Poliklinik absolviert. 1923 wird er promoviert und erhält im selben Jahr seine Approbation.

Es war kaum ein Zufall, dass der junge Facharzt im Jahr darauf in der Cannstatter Bahnhofstraße 14 eine Praxis für Haut- und Geschlechtskrankheiten eröffnete, denn im selben Haus ordinierte schon seit 1903 sein Vater, Dr. med. Elkan Baer. Die räumliche Nähe zum Vater und Fachkollegen und dessen ärztlicher Ruf werden Ernst Baer motiviert haben, nach Cannstatt zu ziehen. Hier bezog er Wohnung in der damaligen Königstraße3 und hatte, wie ein Kollege später bezeugte „schon bald nach seiner Niederlassung […] eine außergewöhnlich große Privat- und Kassenpraxis. Ich hielt ihn stets für den meist besuchten und daher auch bestverdienenden Hautarzt von Württemberg. Sein hohes Berufseinkommen drückte sich u.a. aus einerseits in seiner großzügigen Freigebigkeit gegenüber den Armen (er pflegte erwerbslose Patienten großherzig zu unterstützen), andererseits in seinem gehobenen Lebensstil. Er besaß z.B. sehr frühzeitig ein großes, fast nur dem Privatgebrauch dienendes Auto, zwei Reitpferde usw.“ Über Großherzigkeit gegenüber Minderbemittelten hat auch eine ehemalige Patientin Dr. Baers berichtet und zwei deutsche Doggen als seine ständigen Begleiter erwähnt. Eine große Praxis setzt gute Beziehungen zu den Fachkollegen voraus, aber Ernst Baer hat unter Ärzten auch Freunde gewonnen, unter nichtjüdischen Ärzten wohlgemerkt. Das spricht für sein Emanzipationsbestreben und war alles andere als selbstverständlich, denn die Cannstatter Juden unterhielten zwar vielerlei Kontakte zu ihrer Umwelt, gesellschaftlich blieben sie jedoch weitgehend unter sich. Zwei dieser befreundeten Kollegen erwähnt und zitiert Susanne Rueß, von einem dritten, Dr. med. H., ist jüngst bekannt geworden, dass er seit Tübinger Studientagen mit Ernst Baer befreundet war und ihn als Taufpaten seines Sohnes wählte (der wiederum die Patenschaft für Ernst Baers Stolperstein übernommen hat).

Knapp ein Jahrzehnt hat Dr. Ernst Baer in Cannstatt gelebt und gearbeitet, als er und weitere 8000 bis 9000 in Deutschland praktizierende jüdische Ärzte den Hass der Nationalsozialisten zu spüren bekamen. Kein Beruf sei so „verjudet“ wie der ärztliche, konstatierte der Nationalsozialistische Deutsche Ärztebund schon 1933 und machte jüdische Ärzte dafür verantwortlich, „dass händlerischer Geist und unwürdige geschäftliche Einstellung sich immer mehr in unseren Reihen breit machten.“4 Der antisemitischen Hetze folgten erste Taten, als am 1. April 1933 SA-Posten vor jüdischen Geschäften, Anwaltskanzleien und Arztpraxen Position bezogen, um Kunden und Patienten am Eintritt zu hindern. Schon am 7. April folgte das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, mit dem jüdische Ärzte in den unfreiwilligen Ruhestand versetzt wurden. Das betraf zwar vorerst nur beamtete Ärzte, aber die „symbolischen Aussagen […] und die ideologische Botschaft […] waren unmissverständlich“5. Wer sich den Zeichen der Zeit nicht verschloss, musste weitere antisemitisch motivierte Beschränkungen voraussehen. Zu den Zeichen der Zeit gehörte, dass die ärztlichen Berufsorganisationen ihre jüdischen Funktionäre und Mitglieder ausschlossen, dass Ärzte überproportional in der NSDAP vertreten waren und mit „Ergebenheitsadressen“ in der Fachpresse Einverständnis mit der neuen Politik signalisierten. Es dauerte in der Tat nur Wochen, bis eine Verordnung des Reichsarbeitsministeriums die Tätigkeit jüdischer Kassenärzte für beendet erklärte. Infolgedessen verloren bis zum Frühjahr 1934 über 2000 meist jüdische Ärztinnen und Ärzte ihre Kassenzulassung.6 Einiges spricht dafür, dass Ernst Baer zu ihnen gehörte, denn zwei seiner Freunde datierten später den dramatischen Rückgang seiner Praxis auf die Zeit seit 1933.

Zu den wirtschaftlichen Schwierigkeiten infolge gesetzlicher Maßnahmen kam der Eindruck eines Kesseltreibens, der Panikgefühle auslösen konnte und auslösen sollte. Man schrieb immer noch April 1933, als gesetzlich geregelt wurde, dass Juden nur noch entsprechend ihrem Bevölkerungsanteil an deutschen Schulen und Hochschulen vertreten sein durften. Kaum zwei Jahre später wurden Juden zu keinen Hochschulprüfungen mehr zugelassen und erhielten keine Approbationen mehr. Damit war ihnen der Zugang zum Arztberuf in ihrer Heimat endgültig verschlossen. Um die Verbliebenen vollends zu isolieren, wurde im August 1933 „arischen“ Ärzten verboten, mit jüdischen Kollegen zusammenzuarbeiten, was sich wirtschaftlich vor allem als Verbot von Überweisungen auswirkte. Dass 1938 mit der Vierten Verordnung zum Reichsbürgergesetz allen jüdischen Ärzten schließlich die Bestallung entzogen würde und nur noch wenige als „Krankenbehandler“ jüdische Patienten behandeln durften, hat Ernst Baer vielleicht vorausgeahnt, aber nicht mehr erlebt. Es gehört wenig Fantasie dazu sich auszumalen, wie irreal eine Bedrohung empfunden werden muss, die schlagartig von allen Seiten auf einen eindringt. Keine Zeitung ohne feindselige, abwertende Hinweise auf die Juden. Patienten bleiben aus, Kollegen verweigern die Zusammenarbeit, lassen sich am Telefon verleugnen, Freunde ziehen sich zurück, Nachbarn schlagen die Augen nieder, um nicht zu grüßen, anonyme Briefe gehen ein …

Wahrscheinlich haben Erfolg, Ansehen und Statussymbole wie Auto, Reitpferde und Rassehunde Ernst Baer zu einem bevorzugten Ziel antisemitischer Hetze gemacht. Jedenfalls wagten ihn nach übereinstimmenden Zeugenaussagen immer weniger Patienten aufzusuchen, sodass seine Einnahmen seit 1933 ständig zurückgingen. Dazu haben Boykottmaßnahmen wie der Eintrag in das Verzeichnis „Deutscher, kaufe nicht beim Juden“ sicherlich beigetragen, aber noch viel mehr ein Gestapo-Drohbrief des Inhalts, er benütze seine Praxis, um deutschfeindliche Propaganda zu betreiben. Seine deutschfeindliche Einstellung, hieß es da, könne von mehreren Zeugen bewiesen werden. Man fordere ihn deshalb auf, Stuttgart schnellstens zu verlassen, andernfalls würden weitere Schritte unternommen. Der so angesehene und überaus erfolgreiche Ernst Baer war dem Schicksal permanenter Diffamierung nicht gewachsen. Am 13. Oktober 1937 hat er sich vergiftet und starb im Krankenhaus vom Roten Kreuz. Er litt, wie sein Vater in den Wiedergutmachungsakten zitiert wird, „schon lange an depressiven Zuständen“. Ob Dr. Elkan Baer damit auf ein organisch bedingtes Leiden hinweisen wollte oder nicht vielmehr die deprimierenden Umstände meinte, die ihm selbst schmerzlich vertraut waren, kann nur vermutet werden. Frau Elfriede Baer hat später „Terrormaßnahmen der Gestapo“ und „die Ausschaltung aus seinem ihm lieb gewordenen Beruf“ als ausschlaggebend für den unumkehrbaren Schritt genannt.
König-Karl-Straße 43, Stolperstein verlegt am 16. April 2012
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bild: Anke Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative

  • 1. Siegfried Ostrowski, zitiert in: Johanna Bleger / Norbert Jachertz (Hrsg.): „Medizin im Dritten Reich“, 2. Auflage Köln 1993,S.70
  • 2. Der folgende Beitrag beruht in geringem Umfang auf eigener Recherche, vielmehr folgt er weitgehend dem Beitrag „Dr. med. Ernst Baer“ in: Susanne Rueß: Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus, Würzburg 2009, S. 47 ff
  • 3. heute König-Karl-Straße.
  • 4. www.thieme.de/viamedici/zeitschrift/heft0502/3_topartikel.html
  • 5. Saul Friedländer: Das Dritte Reich und die Juden. Die Jahre der Verfolgung 1933-1939. 2. Auflage, München 1998, S. 46
  • 6. Bleker / Jachertz a.a.O. S. 73

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