Wo vormals Baden, Hohenzollern und Württemberg aneinandergrenzten, liegt Habsthal im Kreis Sigmaringen. Hier wurde Karl Ruggaber am 12. April 1886 geboren, hier besuchte er die Volksschule und absolvierte eine Schlosserlehre. Als Zwanzigjähriger beginnt er sich im Metallarbeiterverband und in der SPD zu engagieren. Nach dem Ersten Weltkrieg, den er von Anfang bis Ende mitmacht, wird er Vorsitzender des Ravensburger Arbeiterrates, der sich am 9. November 1918 konstituiert. In enger Abstimmung mit dem Soldatenrat bilden Versammlungen und Propaganda für die ausgerufene Republik einen Schwerpunkt der Arbeit dieses Gremiums. Besondere Energie hat es auch auf die gerechte Verteilung und notfalls Beschlagnahme von Lebensmitteln verwendet. Man versteht daher, dass seine Tätigkeit auf keine ungeteilte Zustimmung stieß. Man sei vielmehr, heißt es in einem Tätigkeitsbericht vom Dezember 1919, durch Drohschriften und Presseberichte darauf aufmerksam gemacht worden, sich in „einer Hochburg des Zentrums“ zu befinden. „Kräftig unterstützt werden diese Schwarzkünstler durch die Presse am Platze, die dem Zentrum bis unter den Schornstein verschrieben ist.“ Karl Ruggaber selbst hat versucht, eine Erklärung in eigener Sache in die Presse zu bringen, um unter anderem darauf hinzuweisen, dass er brieflich mit einer Handgranate bedroht worden sei. Die Redaktion des „Oberschwäbischen Anzeigers“ wies ihn mit dem Hinweis ab, das widerspreche dem Redaktionsprinzip und gehöre in den Anzeigenteil.1
Ruggabers Zwischenspiel als Vorsitzender des Ravensburger Soldatenrats endete nach wenigen Wochen. Seit 1919 setzte er seine politische Laufbahn als Gewerkschafter, als Parteisekretär, als Gauführer des Reichsbanners-Schwarz-Rot-Gold, als Mitglied der Württembergischen Verfassunggebenden Landesversammlung und 1920 bis 1933 als Mitglied des Landtags fort. Sein Ansehen und Einfluss sind daran abzulesen, dass er zu den vier Politikern gehörte, die sowohl der Verfassunggebenden Landesversammlung als auch sämtlichen Landtagen bis 1933 angehörten.2
Diese politische Laufbahn endete am Vorabend der Reichstagswahl vom 5. März 1933. Parteisekretär in Schwenningen, von wo aus er das Gebiet etwa zwischen Calw und Tuttlingen zu betreuen hatte, war Karl Ruggaber für die Schwenninger Großdemonstration von SPD und „Reichsbanner“ mitverantwortlich. „Die nächsten, die kommen, werden wir sein!“ versucht er als Hauptredner seinen Zuhörern und wohl auch sich selbst einzureden.3Die Wähler jedoch haben anders entschieden: Als weitaus stärkste Partei schneidet die NSDAP mit 43,9% der Stimmen ab und erobert 288 von 647 Sitzen des Reichstages. Dieses Ergebnis „löste die eigentliche ‚Machtergreifung‘ aus, die sich in den folgenden Tagen in jenen Ländern des Reiches abspielte, die bis dahin noch nicht in der Hand der Nationalsozialisten gewesen waren“.4
Am 8. März war es in Württemberg so weit. Unter Berufung auf die nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar erlassene Verordnung zum Schutz von Volk und Staat übernahm die Reichsregierung die vollziehende Gewalt. Damit hatten die Nationalsozialisten freie Hand, und sie zögerten keinen Moment, mit ihren politischen Gegnern abzurechnen. „Die kommunistischen Reichstagsabgeordneten müssten noch in derselben Nacht gehängt werden“, hatte Hitler am Abend des Reichstagsbrandes getobt. „Auch gegenüber Sozialdemokraten oder Reichsbannerleuten werde es keine Schonung mehr geben.“5 „Konzentrationslager für die KPD-Arbeiterverräter“, triumphierte der Stuttgarter NS-Kurier am 16. März. Polizeipräsident Jagow habe sich „nach einem anderen ‚geeigneten Aufenthalt‘ umgesehen. Er hat 100 Mann SA auf den Heuberg beordert, die dort das Konzentrationslager vorbereiten, in dem die Kommunistenführer Gelegenheit haben werden, sich zum erstenmal in nützlicher Arbeit für das Wohl der schaffenden Volksschicht zu betätigen“. 6 Wilhelm Keil - Reichstagsabgeordneter bis 1932, in der Nachkriegszeit bis 1952 Präsident des Landtags von Württemberg-Baden - gelang es vereinzelt, Parteigenossen wieder frei zu bekommen, nicht aber Karl Ruggaber.
Auf dem ehemaligen Truppenübungsplatz Heuberg bei Stetten am kalten Markt war in aller Eile ein Konzentrationslager für bis zu 2000 Schutzhaftgefangene errichtet worden, neben Dachau das größte in Süddeutschland. Hier sollten die „ruhe- und ordnungsgefährdenden Elemente“ aus ganz Württemberg „sichergestellt“ werden. Ziel dieser Maßnahme war es, wie der Staatsanzeiger meldete, die örtlichen Polizeibehörden zu entlasten. Das Lager „unterstand dem Stuttgarter Polizeipräsidium und ab 28. April der eigenständigen Abteilung ‚Württembergische Politische Polizei‘; es war damit eine staatliche Einrichtung des Innenministeriums. Die Bewachung lag in der Hand der Schutzpolizei und der als Hilfspolizisten rekrutierten SA-Männer, die oft erst auf dem Heuberg […] auf ihren Einsatz notdürftig vorbereitet wurden.“7 Lagerkommandant Karl Buck, der später im KZ Welzheim für Tod und Folter sorgte, verbreitete ab Mitte April 1933 auf dem Heuberg Furcht und Schrecken.
Zur Empfangsprozedur gehörte, dass die Häftlinge kahl geschoren und gegebenenfalls ihres Bartes beraubt wurden. Ruggaber wurde bei dieser Gelegenheit außerdem um 300 Reichsmark erleichtert, die er mit sich führte. „Die Unterkünfte bestanden überwiegend aus zweigeschossigen Steinhäusern mit jeweils sechs Räumen, die mit doppelstöckigen Eisenbetten und Strohsäcken sowie Spinden ausgestattet waren.“ Mangels ausreichender Arbeitsmöglichkeiten, wurden vor allem prominente Häftlinge durch sinnlose Arbeiten drangsaliert und erniedrigt: „Sie mussten Körbe mit Kieselsteinen ausleeren und wieder einsammeln, Gräser ausrupfen oder mit stumpfen Sägen und Beilen Holz zerkleinern.“8Ganz ähnlich erinnert sich Ruggabers Landtagskollege Erich Roßmann, wenn er im Rückblich schreibt, zwar habe sich das Lagerleben der ersten Monate noch nicht in der satanischen Ordnung vollzogen, die er später in Sachsenhausen kennengelernt habe. „Doch war das System des Quälens, der Einschüchterung, der Demütigung, der körperlichen und seelischen Misshandlung in seinen Anfängen schon stark ausgebildet.“9 Zum Beispiel machten sich sadistische SA-Männer ein Vergnügen daraus, SPD-Funktionäre „arbeiten lernen“ zu lassen. „Zu diesem Zwecke“, schreibt Roßmann, „wurde ein großer Haufen Steine auf dem Kasernenhof aufgeschichtet. Wir mussten die Steine aufschütten und später in die Schotterdecke des Hofes einwalzen. Mein guter Kamerad Fritz Ulrich aus Heilbronn […], der etwas schwerblütige Landtagsabgeordnete Karl Ruggaber aus Schwenningen und ich wurden zu diesem Zwecke vor eine Straßenwalze gespannt, die wir über Schotter und Kies hinwegzuziehen hatten. Wir waren also regelrechte Zugtiere geworden.“10 Wie Hohn mutet es unter diesen Umständen an, dass die Einladung zur Plenarsitzung des Württembergischen Landtags am 3. Juni 1933 an „Karl Ruggaber im Lager Heuberg, Bau 19, Zimmer 10“ adressiert war. Aus der Tatsache, dass er bei der ersten und letzten Sitzung des fünften Landtags nicht als fehlend vermerkt wurde, folgert Martin Schumacher11, er sei vom Heuberg „beurlaubt“ worden. Handfeste Belege, die seine eher unwahrscheinliche Vermutung stützen könnten, sind bis jetzt allerdings nicht aufgetaucht.
Zu den willkürlich angeordneten Strapazen und sadistischen Schikanen, denen die KZ-Häftlinge auf dem Heuberg ausgesetzt waren, kamen begründete Angst vor mörderischer Willkür und eine quälende Ungewissheit über das Ergehen der Familien. Ruggabers Töchter waren neun und 14 Jahre alt, seine Frau war ohne Einkommen, seine Ersparnisse waren beschlagnahmt. Der Briefverkehr mit der Außenwelt war stark eingeschränkt und wurde zensiert. Ruggaber, mit dem, was er auf dem Leibe trug, ins Lager gekommen, schrieb wiederholt nach Hause und bat um warme Kleidung, weil ihm die Kälte im Lager zu schaffen machte.12
Mit dem Ziel, den Zusammenhalt der Häftlinge zu brechen und sie zu verunsichern, wurde Karl Ruggaber im Oktober 1933 mit anderen Sozialdemokraten nach Ulm in den dortigen Garnisonsarrest überführt. Der sadistische Lagerkommandant Buck hatte ihnen angedroht, dass sie im Fall einer Meuterei erschossen würden. Die Verlegung nach Ulm war als Haftverschärfung gedacht, die nach Bucks Anordnungen so aussah: „Einzelhaft, keinen Hofgang, keine Schreiberlaubnis, kein Postempfang, nicht rauchen. Doch das Gegenteil trat ein. Die Verwaltung des Militärgefängnisses unterstand dem Polizeioberwachtmeister Gnaier, einem Mitglied der ehemaligen Zentrumspartei. Alle ehemaligen Inhaftierten des Arresthauses erinnern sich mit Dankbarkeit und Hochachtung an ihn. Im Gegensatz zum Heuberg herrschte im Militärgefängnis eine wohltuende Ruhe. Die Bewachung […] erfolgte durch kasernierte Schutzpolizei, die die Häftlinge stets korrekt behandelt hat.“13Nachdem die sozialdemokratischen Gefangenen nach Ulm überstellt waren, sollen einige von ihnen, darunter Karl Ruggaber, am 22. Oktober brieflich eine Loyalitätserklärung an Reichsstatthalter Murr gerichtet und darin unter anderem geschrieben haben „Wir stehen im deutschen Kampf um Ehre und Frieden vorbehaltlos auf der Seite des Vaterlandes. Wir bitten Sie, Herr Reichsstatthalter, dem Herrn Reichskanzler und der Württ. Regierung Kenntnis zu geben.“ Zur daraus resultierenden Frage, ob die Gefangenen dieses demütigende Dokument unterschrieben haben und wenn ja, ob freiwillig oder gezwungenermaßen, schreibt Paul Sauer: „Dass der Nationalsozialismus die Gefangenen im Sinne seiner Ideologie zu beeinflussen suchte, liegt auf der Hand. Doch erscheint wenig wahrscheinlich, dass eine Anzahl bekannter oppositioneller Politiker wie Karl Ruggaber, Erich Roßmann oder Ernst Reichle den im Staatsanzeiger abgedruckten Brief vom 22. Oktober 1933 […] freiwillig unterschrieben hatte.“14 “Solange die Existenz des Briefes aber nicht zweifelsfrei erwiesen ist”, schreibt neuerdings Erardo C. Rautenberg, “muss man in Anbetracht des Umstandes, dass die angeblichen Unterzeichner nach den gemachten Erfahrungen keinen Grund hatten, auf Hitlers Versöhnungsangebot einzugehen und im Hinblick darauf, dass keine Hinweise darauf vorliegen, dass im Garnisons-Arresthaus auf sie Zwang ausgeübt wurde, auch die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass den Publikationen überhaupt kein ‘Treuebekenntnis’ zu Grunde liegt, sondern dieses fingiert war.”15 Am 24. Oktober wird Erich Ruggaber endlich aus der Schutzhaft entlassen, und zwar aus dem Garnisonslazarett. Dies ließ er sich von der Außenstelle Ulm der politischen Polizei bestätigen16 und sorgte so für einen frühen Hinweis darauf, dass die Haft seine Gesundheit untergraben hat. Wegen „eines Bronchialkatarrhs verbunden mit allgemeiner Körper- u. Nervenschwäche und eines Nabelbruchs”17 begab er sich alsbald in ärztliche Behandlung. Dass er arbeitslos war und polizeilich streng überwacht wurde und pro Tag erlittener Schutzhaft zwei Reichsmark zu bezahlen hatte, wird die psychische Verfassung des sensiblen Mannes weiter verschlechtert haben. Später, als im Zuge der Wiedergutmachung um die Ursache seines Todes gestritten wurde, waren zahlreiche Parteifreunde wie Minister Fritz Ulrich und Wilhelm Keil, Gewerkschafter und Nachbarn übereinstimmend überzeugt, dass er den Folgen der Schutzhaft erlegen ist.18 Erich Roßmann meinte, die Quälereien hätten an Ruggabers Seele genagt. „Kaum ein Jahr nach der Entlassung, war er, vorher ein Hüne von Gestalt, ein toter Mann.“19
Am Ende hat Karl Ruggaber einen Nierenkrebs nicht überlebt, der sich als inoperabel erwies, er starb am 23. Januar 1936. Am 26. Januar wurde er auf dem Cannstatter Steigfriedhof beigesetzt. „Wohl an die 1500 Gesinnungsgenossen aus allen Landesteilen haben sich an dem klaren Sonntagmittag auf dem Friedhof eingefunden. Diese Beteiligung und die Grabreden verleihen der Trauerfeier den Charakter einer Demonstration gegen den Naziterror, den auch der katholische Geistliche in verständlichen Andeutungen geißelt. Die Nazi sind überrascht und lassen in den nächsten Tagen verkünden, dass sich das nicht wiederholen dürfe.“20Der von Wilhelm Keil zitierte Geistliche war damals Vikar der Cannstatter Liebfrauengemeinde und geriet mindestens ein weiteres Mal mit den NS-Behörden in Konflikt: „Einem solchen Redner gebühre dafür eine Ohrfeige“ hatte er in Weil der Stadt gepredigt, „nachdem der Kreisschulungsleiter der NSDAP in Leonberg in einer Rede ‚Papsttum und Bolschewismus‘ auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt hatte“. Der Vikar wurde für seine mutige Äußerung mit 50 RM Bußgeld bestraft.21
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: Cannstatter Stolperstein-Initiative
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