src=”/files/webfm/Rothschild-Wilhelm-ca-1920.jpg” width=”25%” class=”buimgr” alt=”Wilhelm Rothschild (undatiert)” />1 2 Wilhelm Rothschild kam nicht weit, er stürzte, noch bevor er Halt fand, aus dem Fahrzeug und zog sich Verletzungen zu, denen er kurz darauf erlag. Das war am 24. August 1942.
Begonnen hatte das Leben des 83-Jährigen am 31. Juli 1859 in Stebbach, einem zu Gemmingen (Landkreis Heilbronn) gehörigen Dorf. Seine Kindheit und Jugend hat er in Cannstatt im Hause seiner Eltern Max und Wilhelmine Rothschild mit dem älteren Bruder Emil (1857) und den jüngeren Geschwistern Eduard (1862), Lina (1865) und Rosa (1870) verbracht. Der Vater war Viehhändler, und unter dieser Berufsbezeichnung finden wir auch Wilhelm ab 1899 in der Hallstraße 41, kurz nachdem er die Ehe mit der zehn Jahre jüngeren Sofie Laubheimer eingegangen war, übrigens eine arrangierte Ehe, wie der Enkel Walter Marx3 berichtet hat. Der 1905 oder 1906 erfolgte Umzug aus der damals noch ländlich geprägten Cannstatter Vorstadt in die gründerzeitlich bebaute Karlstraße lässt auf einen gewissen Wohlstand schließen. Jedoch erlitt Wilhelm Rothschild im Ersten Weltkrieg Einbußen, die er nie mehr ganz ausgleichen konnte. In Cannstatt mag es, zumal zur Inflationszeit, besonders schwer gewesen sein, sich gegen die zahlreiche Konkurrenz zu behaupten. 1921 waren in Stuttgart 31 Vieh- und Schweinehändler vom Landesamt für Viehverkehr zugelassen, davon allein 14 in Cannstatt.4
Wilhelm Rothschild, zuverlässiges Mitglied der israelitischen Gemeinde, ging nicht nur an höheren Feiertagen, sondern jede Woche in die Synagoge. „Wenn man einen ‚Minjan’ benötigte, so hielt sich Großvater dafür immer verfügbar“, schrieb sein Enkel Walter Marx5. Wilhelm Rothschild und seine Frau Sofie, die schon 1923 mit 54 Jahren starb und auf dem Steigfriedhof6 begraben liegt, beköstigten Arme, fasteten an Jom Kippur und hielten sich auch sonst an die religiösen Vorschriften. Der Glaube bestimmte ihr Leben.
Vor diesem Hintergrund war es eine schwierige Entscheidung, als der liberale Fabrikantensohn Julius Marx um die Hand ihrer Tochter Liddy anhielt. Im Bemühen um Assimilation war das jüdische Element im Hause Marx nämlich nur noch rudimentär vorhanden. Zu diesem religiösen Defizit kam, dass man in so wohlhabenden und weitgehend assimilierten Kreisen auf den klassischen jüdischen Viehhändler herabsah. „Solche Berufe, das war ihre feste Überzeugung, waren die Wurzel des deutschen Antisemitismus und bildeten ein Haupthindernis auf dem Weg zur vollen Akzeptanz der Juden in der Masse der deutschen Gesellschaft.“7 Julius Marx ließ sich freilich von derlei Vorurteilen, ja nicht einmal durch die Einwände seiner Mutter Babette Marx beirren. Und die Rothschilds mögen es bei allen Bedenken auch als Ehre und für ihre Tochter als Glück angesehen haben, dass ihr der Aufstieg in eine höhere Gesellschaftsschicht glückte, so gab der Vater dem Paar seine Einwilligung. Er versicherte dem Schwiegersohn, „dass er seine Familie nie würde unterstützen müssen“, er könne allerdings auch „nicht mit einer Aussteuer aufwarten“.
Die 1923, 1925 und 1933 geborenen Enkelkinder Sofie, Walter und Michael Marx mögen noch einmal Licht in das Leben des inzwischen verwitweten Mannes gebracht haben, zumal wenn sie am Schabbath mit in die Synagoge gingen. Aber seine jüngste Tochter, Gretel, die ihm den Haushalt führte, erlag im Oktober 1938 einer Gehirnhautentzündung. Als dann 1939 Else, die Zweitjüngste, nach Schottland auswanderte, muss er sich entschlossen haben, die Wohnung in der Teckstraße aufzugeben und ins jüdische Altersheim (Wagenburgstraße 26-28) zu ziehen. Sein Sohn Julius, in einem Chemnitzer Textilunternehmen beschäftigt, hatte als erster der Familie Deutschland schon 1936 oder 1937 in Richtung Uruguay verlassen.
Rothschilds Bleiben im damals schon überfüllten Wagenburgheim war nur von kurzer Dauer. Um der durch den Zweiten Weltkrieg verschärften Wohnungsnot zu begegnen, entwand die Stadt Stuttgart der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland – sie war Rechtsnachfolgerin des zwangsweise aufgelösten Landes- und Asylvereins - die beiden Gebäude und siedelte die betagten Insassen nach Schloss Eschenau bei Heilbronn um. „Hauptsache ist, dass Ihr gut angekommen seid“, schrieb der kranke Wilhelm Rothschild am 14. Oktober 1941 an Tochter Liddy und Schwiegersohn Julius Marx in Amerika, um fortzufahren: „Bei mir ist [es] leider anders, wir werden Mitte Nächsten Monat umziehen nach Eschenau bei Weinsberg.“ Seine Chaiselongue und ein Kästle habe er schon verkauft, teilt er mit und fragt verzagt, wie es mit dem einzigen Schrank, der ihm verblieben ist, dort gehen soll. Etwas länger als in diesem letzten Lebenszeichen angekündigt, das die Verwandten erreichte, konnte der alte Herr noch im Wagenburgheim bleiben. Erst am 22. Dezember traf er in Eschenau ein. Auch dieser Aufenthalt sollte nur Monate währen; denn am 19. August des folgenden Jahres wurde das Schloss geräumt. Um 10.17 Uhr verließ ein Sonderzug mit den betagten Juden Eschenau und erreichte um 13.55 den Stuttgarter Nordbahnhof. Die Unglücklichen wurden zum Sammellager auf dem Stuttgarter Killesberg gebracht. Bei der Ankunft wurden ihnen Wertgegenstände und Lebensmittel abgenommen.
Da die meisten über 65 Jahre alt waren und sich zahlreiche Schwerkranke sowie Behinderte darunter befanden, ereigneten sich in den Tagen und vor allem in den Nächten bis zum Samstag furchtbare Szenen. Am Morgen des 22. August verfrachtete man die Opfer zu der Gleisanlage bei der Martinskirche […] und sperrte sie – Kranke eingeschlossen – in Viehwaggons. […] Die Opfer mussten für ihre Deportation noch bezahlen. Für die Fahrkarte nach Theresienstadt wurden 50 RM berechnet, für ein – niemals ausgehändigtes – Proviantpaket 5 RM, dazu kamen noch Gebühren von 1,15 RM für die Zustellung der Beschlagnahmeverfügung durch den Gerichtsvollzieher. Um an das Vermögen heranzukommen, hatte das Reichssicherheitshauptamt ein System von so genannten Heimkaufverträgen entwickelt, das heißt, die Deportierten mussten ein ‚Eintrittsgeld’ von 2000 RM und ein monatliches ‚Pflegegeld’ in Höhe von 180 RM für fünf Jahre im voraus bezahlen.“8 Wie kaltblütig der 83-jährige Wilhelm Rothschild damit ausgebeutet war, bedarf keines Kommentars.
© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Text, Rainer Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
© Bilder: Marx Erben und Anke Redies, Cannstatter Stolperstein-Initiative
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