Mehr als 100.000 Menschen fielen von 1940 bis 1945 der NS-„Euthanasie“ zum Opfer. Um zu verstehen, wie es zu diesem organisierten Massenmord kam, muss man die Vorgeschichte kennen. Als einer der ersten hat der zu seiner Zeit berühmte Naturforscher Ernst Haeckel (1834-1919) einer künstlichen Auslese das Wort geredet. Den schnellen Tod der Wehrlosen haben auch der Psychiater Auguste Forel (1848-1931), der Physiologe John B. Haycraft (1857-1922), der Jurist Adolf Jost (1874-1908) und Alfred Ploetz (1860-1940) befürwortet, dessen Programm künstliche Auslese und „Rassenhygiene“ miteinander verquickte. Schließlich rechtfertigten 1920 der Arzt Alfred Hoche und der Jurist Karl Binding die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“, was die Nationalsozialisten mit Programmen wie T4 und 14f13, mit dezentraler Euthanasie und Kindereuthanasie zur Maxime ihres Handelns erhoben.
Ein Erlass des Reichsinnenministers vom Oktober 1939 schuf die Voraussetzung für die Realisierung des Mordprogramms. Damit wurden die südwestdeutschen Heil- und Pflegeanstalten aufgefordert, ihre Patientinnen und Patienten zu melden sowie über deren Arbeitsfähigkeit und Verweildauer Auskunft zu geben. Die Bevölkerung wurde durch Propaganda manipuliert und darauf vorbereitet, die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“ zu dulden oder mitzutragen. Das reichte bis in den Schulunterricht. “125 Mark sind die Ausgaben für ein gesundes deutsches Schulkind. Um wie viel Prozent teurer kommt dem deutschen Volk ein Geisteskranker oder Krüppel?” lautete eine perfide Rechenaufgabe.
Als erster Ort der Vernichtung wurde Schloss Grafeneck auf der Schwäbischen Alb eingerichtet. Allein dort wurden 1940 mehr als 10.000 wehrlose Frauen, Männer und Kinder in Kohlenmonoxidgas erstickt. Willy Mundinger erlitt dieses Schicksal am 3. Juni 1940.
Dass hilflose Menschen spurlos „ausgemerzt“ werden konnten, war möglich geworden, weil den „Predigern des schnellen Todes“ nicht von Anfang an entschieden entgegengetreten und die Menschenwürde nicht entschlossen verteidigt wurde. Als dann die Theorie in die Tat umgesetzt und rund das Morden im Gange war, war es zu spät. Widerstand und offene Worte waren lebensgefährlich geworden. Mehr als 80 Jahre nach Willy Mundingers Tod ist es wieder dringend geworden, Verächtern von Demokratie und Menschenrechten, Populisten und Leugnern des Holocaust entschieden entgegenzutreten.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Dieser fundamentale Grundsatz unserer Verfassung gilt ausnahmslos für alle Menschen. Willy Mundinger ist dieser Würde beraubt und qualvoll ermordet worden. Daran soll sein Stolperstein erinnern.
Erweiterte Textfassung April 2024
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© Text: Rainer Redies, Cannstatter Stolpersteininitiative
© Foto: Anke Redies, Petra Siebholz
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